Vorwort des Verfassers
Jene Leser, die meine früheren Bücher kennen, werden sich vielleicht fragen: Wozu, um Himmels willen, braucht es einen weiteren Science-Fiction-Roman? Haben wir denn nicht wahrlich genug Probleme auf diesem Planeten, mit dieser Erde? Wozu in die Zukunft, wozu in die Weite schweifen? Ist das nicht eine weitere Form von Realitätsflucht?
Meine Antwort darauf: Wenn wir die Größe des Ganzen betrachten, wird alles relativ. Dann erhielte alles seinen ihm entsprechenden Platz. Nicht mehr und nicht weniger. Dann würden wir vielleicht demütiger.
Wenn wir die Weite und Tiefe des Ganzen sähen, würden wir erkennen, dass sich ein Widerhall, ein Echo der Unendlichkeit in jedem menschlichen Herzen befindet, und wir würden staunend anerkennen müssen, dass wir trotz unserer vergleichsweisen Winzigkeit ein nicht unbedeutender Teil von etwas viel Größerem sind.
Das Universum hat mich schon als Junge fasziniert. Ich blickte oft mit offenem Mund in diese funkelnde Unendlichkeit und dachte mir, vielleicht sind meine Probleme in der Schule, mit Freunden, den Eltern, doch nicht so groß? Ich spürte Freude und Glück, die Ahnung von etwas Gewaltigem, wenn ich in einer klaren Nacht zum Himmel starrte und es waren beinahe religiöse Empfindungen. Denn dies waren ja nicht nur schöne Punkte, nicht nur ferne Lichter, dies waren wirkliche Welten, auf denen man theoretisch tatsächlich stehen könnte (natürlich meinte ich ihre unsichtbaren Planeten, denn auf Sternen konnte man nicht stehen, das wusste ich schon damals) …
Eine Frage, die sich mir dann stellte, war beispielsweise diese: Warum ist es so, dass ganz alltägliche physikalische oder chemische Vorgänge eine seltsame Analogie zu einer geistigen Wirklichkeit boten? Wenn Regen zur Erde fällt, und es wachsen aufgrund des einsetzenden Nährstoffkreislaufes Pflanzen, warum wachsen Früchte von Freundschaft und Verstehen, wenn ich in den Herzensboden einer Person investiere? Wenn ein Strahl Licht die Dunkelheit erhellt, und Konturen und Strukturen dadurch sichtbar werden, warum können wir behaupten, das das Licht des Verstandes Realitäten erhellt und wir damit ›sehen‹ können? Sehen im Sinne von Wissen?
Man könnte das beliebig erweitern. Warum gab es diese verblüffenden, wie beiläufigen Zusammenhänge zwischen materieller und immaterieller Welt? Haben wir unser Denken diesen Beobachtungen nur angepasst, und Zusammenhänge mit dem inneren Erleben als Metaphern bezeichnet, oder waren diese Zusammenhänge zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt schon vor dem menschlichen Bewusstsein existent? Ist das Materielle Grundlage der Wirklichkeit, oder ist es vielleicht umgekehrt? Was war zuerst? Hat unser Denken die Wirklichkeit geprägt oder die Wirklichkeit unser Denken?
Diese vielen Fragen stellte ich mir also – vielleicht nicht so schön ausformuliert – als Kind, während ich auf einem einsamen Parkplatz in einer klaren Winternacht zu diesen funkelnden Lichtern hinauf sah, und zu Staunen begann.
Dieses Staunen ist tiefer geworden, je älter ich wurde. Und ich weiß, dieses Staunen, diese Faszination, motivierte auch einen jungen Mann namens Albert Einstein, eine bahnbrechende neue Physik zu entwickeln, die die Welt für immer verändern würde.
Passenderweise nannte er sie ›Allgemeine‹ und ›Spezielle Relativitätstheorie‹, die Theorie der Relation, und zugleich der Absolutheit der Welt, letztere sich z.B. widerspiegelnd in der unveränderlichen Elementarkonstante der Lichtgeschwindigkeit.
Der vorliegende Roman beschäftigt sich aber auch mit einer der wohl verblüffendsten Konsequenz der Relativitätstheorie: Der theoretischen Möglichkeit von Zeitreisen durch bewegungs- und masseabhängige Zeitdilatation (Dehnung bzw. Komprimierung der Zeit), die in kleinem Maßstab bereits unzählige Male experimentell nachgewiesen und verifiziert wurde (z.B. arbeitet unsere GPS-Navigation nur deshalb so exakt, weil sie genau diesen relativistischen Effekt einberechnet).
Anders ausgedrückt: Physikalische Naturgesetze ermöglichen diese reale Zeitdehnung bei großer Geschwindigkeit oder großer Masse in viel größeren Umfang als z.B. innerhalb des GPS, man könnte sie sich nutzbar machen, und sie ist mathematisch berechenbar. Aber ob ein bedeutenderes immaterielles Gesetz, z.B. der Logik oder der Kausalität diese Möglichkeit einer Reise durch die Zeit generell ausschließt, ist noch nicht erforscht. Ernstzunehmende Naturwissenschaftler jedenfalls denken sehr viel darüber nach.
Mich persönlich würde es nicht wundern, wenn es solch eine verborgene Grenze gäbe, da ich glaube, dass Information, also Geist im weiteren Sinne, die Grundlage des materiellen Universums ist, so wie die Erbinformation Grundlage und Bauanleitung für jede einzelne Zelle und jedes Leben ist, und diese ›Intelligenz‹ es nicht zuließe. Aber, wer weiß?
Alle naturwissenschaftlichen Fakten, Zeiten und Zusammenhänge, die dieses Buch beschreibt, spiegeln, soweit dem Verfasser nach gewissenhafter Recherche bekannt, den Stand der aktuellen Forschung wider.
Doch in erster Linie ist dies natürlich ein Roman, und als dieser sollte er vor allem Eines tun: Den Leser gut unterhalten.
Ich habe mich beim Schreiben jedenfalls köstlich amüsiert.
Augsburg, im März 2022
Im unbegreiflichen Weltall offenbart sich eine grenzenlos überlegene Vernunft.
Die gängige Vorstellung, ich sei Atheist, beruht auf einem großen Irrtum. Wer sie aus meinen wissenschaftlichen Theorien herausliest, hat sie kaum begriffen. Denn das Schönste, das wir erleben können, ist das Geheimnisvolle.
Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist tot und sein Auge erloschen.
Albert Einstein
Irgendetwas passierte vor 700 Millionen Jahren auf dem Planeten Venus, wodurch gigantische Mengen an Kohlendioxid in die Atmosphäre gelangten, die nicht wieder im Gestein gebunden werden konnten.Dieses Ereignis verwandelte Venus vollkommen.
Klima und Atmosphäre auf ihr könnten noch bis vor rund 715 Millionen der Erde geähnelt haben.
Michael J. Way, Astrophysiker
Goddard Institute for Space Studies, NASA,
2019
Prolog
Vor Beginn von Raum und Zeit
Das Nichts war erfüllt von leiser, doch majestätischer Melodie. Ab und zu hörte sie sich an wie fröhliches Kinderlachen, und dann raschelte es in Blättern von Bäumen, als spiele ein sanfter Wind mit ihnen.
Beides würde es später einmal geben.
Doch in Wirklichkeit vernahm niemand dieses seltsame Geräusch und niemand hörte das Lachen, denn es gab kein Leben, das wahrnehmen konnte, es existierte kein Raum, in dem sich Schall ausbreiten konnte, es gab keine Zeit, die einen Verlauf bestimmen konnte, und es gab niemanden, der irgendetwas empfangen konnte.
Und doch …
Und doch schien es, als läge eine gespannte Erwartung in der Unbelebtheit des Nichts, als vibriere es voller Kraft und kaum zu beherrschender Energie.
***
Stille breitete sich aus in dem Nichtsein.
***
Schließlich, völlig unerwartet, und keiner weiß genau wann, denn die Ewigkeit liegt jenseits menschlicher Vorstellungskraft, wurde diese Botschaft empfangen, und zwar von etwas ganz und gar Außergewöhnlichem …
***
Er, der Erstgeborene, meinte, ein Lachen zu hören.
Und er vernahm ein Wispern in der endlosen Leere, und er replizierte Worte, Informationen, in seinem Geist, während er verstand.
›Es sei Raum und Zeit‹, murmelte es.
›Es sei das All‹, flüsterte es von allen Seiten.
›Es sei die Welt!‹
Und er empfing die Worte mit offenem Herzen und jubelndem Geist, denn er verstand ihre ewige Bedeutung.
»Es sei der Kosmos«, schrie er triumphierend.
»Es sei das Universum«, rief er hinein in jegliche Unbelebtheit, in jede Erstarrung, in jede Leere hinein.
Es war ein unerhörter Befehl, ein Erlass, noch nie vernommen, noch nie gesprochen, und die Autorität, alles zu erschaffen, lag in dieser Stimme. Er sprach und er sang, und die Schallwellen seiner Worte breiteten sich aus in einem Raum, der ins Sein gerufen wurde.
Hörbare Worte vermittelten Information und eine getragene Melodie erklang. Doch die Stimme wand sich weit empor zu einem Jubeln und sie steigerte sich zu einem Brausen, das alles in Bewegung und Schwingung versetzte.
Hätte ein Sternenwanderer, ein Geschöpf der Urzeit, dies vernommen, so hätte diese Schönheit sein Herz erbeben lassen und er wäre verwandelt worden für alle Zeiten. In einem einzigen Augenblick. Und dann stimmten die Geistwesen ein in den Gesang, sie, die noch ungeformt waren und die gerufen wurden.
Und der Jubel verdichtete sich zu einem Punkt unvorstellbarer Energie und einer nie mehr erreichten Dichte an Information. Und während die Stimmen von der Freiheit und dem Leben und der Liebe sangen, empfing er das Wort der Unendlichkeit und sein Geist wurde gesättigt von Wahrheit und Liebe.
Und als er empfing, erkannte er, wer er war:
Ich bin, der das Universum befreit.
Ich bin, der es in Existenz ruft.
Dann war er still, und er lauschte hinein in die Tiefe der Zeit, die doch gerade erst begonnen hatte …
Und die ewige Macht sprach zu seinem Herzen und der Geist flüsterte in seine Seele; er solle das Neue hervorrufen, und die Begeisterung raubte ihm den Atem und er tanzte vor Freude wie ein Kind, und die Heere der Geistwesen und die Myriaden der Gewaltigen jauchzten ihm zu.
»Es werde Licht«, rief er mit starker Stimme.
»Es werde Licht.«
Und das Echo seiner Worte breitete sich aus im Vakuum, und es war ein singuläres, ein einzigartiges und nicht zu wiederholendes Ereignis. Die Menschen würden es später Anfangssingularität nennen. Ein Uratom unvorstellbarer Einheit und Dichte und Information, aus dem alles, was ist, entstand.
In diesem Bruchteil einer ersten Zeit zerspaltete ein Lichtblitz das tote Nichts, eine Explosion von Raum, Licht und Farben. Und in jenem Moment, dem Bruchteil der ersten Sekunde, entstanden die ersten Elementarteilchen, nach einigen Minuten die ersten Atome. Materie verband sich und durch die elektromagnetische Strahlung wurde alles sichtbar und er fühlte sich wie ein Dirigent vor seinem Orchester.
Damals, als die Sterne die ewige Nacht entflammten.
***
Doch was sein Herz weit mehr entzündete, war, was man nicht sehen konnte. Liebe ohne Maß erfüllte ihn und Zärtlichkeit für alles Erschaffene und er weinte lange und seine Tränen erreichten eine ferne Welt.
Tränen von Freude und Trauer zugleich. Denn er sah voraus, was in ferner Zeit geschehen würde, und er erkannte den Triumph, der sich ereignen würde, und er spürte die Einheit und Nähe, die das Universum verband wie unsichtbare Fäden, die Milliarden von Lichtjahren umspannten. Er sah sie leuchten wie rotglühende Drähte, unendlich kleine Strukturen, Quantenschleifen, durch die Energie floss und Leben. Ein unsichtbares Netz von Wahrheit und Wirklichkeit und Liebe, das diese gigantischen Räume, diese furchterregenden Welten, zusammenhielt und für immer miteinander verbinden würde. Und er schaute in der Tiefe seiner Selbst die Schönheit und die brillante Intelligenz der weißen Macht, die schon immer war, und die immer sein würde, und er spürte in sich den unbedingten Willen, das Leben, das so einzigartig war, weiterzugeben. Doch bevor der Triumph endgültig wäre, bevor das Ziel von Allem erreicht würde, würde es Krieg geben.
Es würde ihn geben müssen.
Denn wahre Liebe bedingte wahre Freiheit, sie bedurfte der Freiheit, ›nein‹ zu sagen zu allem, was ist.
Es würde ein Ringen sein über Äonen und Zeitalter: Es würde Krieg herrschen auf dem Planeten der Auserwählten, und Krieg zwischen den Sternen. Krieg im Übernatürlichen und Krieg in dem, was nun sichtbare Realität war. Und Krieg insbesondere um die Herzen und den Verstand seiner vernunftbegabten Geschöpfe.
Und mit jeder Faser seines unerklärlichen und ewigen Seins glaubte er daran, dass dieser Krieg notwendig war, und dass dieser Sieg jede Entbehrung, jeden Schmerz, jedes Leid und sogar den Tod wert war.
Er wusste, er war erwacht.
Doch auch er war erwacht, Leviathan, der sich Windende. Er, der Verbogene im Denken und Herzen.
Er, der Vernichter.
Die Menschen würden ihm später viele Namen geben.
Äonen hindurch hatte er im dunkelsten Winkel des Universums verharrt, in todesähnlicher Erstarrung, denn seine Rebellion gegen die weiße Macht war sein Fall gewesen.
Wie alle Wesen des Geistes hatte er Macht erhalten, sich in den zwei Formen des Seins zu bewegen. Im Geist oder in der Materie. Doch die Materie war schwach und begrenzt, und sie war anfällig für Täuschung, Betrug und Schmerz. Außerdem wurde er sichtbar und somit verletzlich. So wählte er meist den Geist für das Werk seiner Bosheit und das Spinnen seiner Intrigen. Sein Verstand war im Geist weit stärker und schärfer, er war eine heiße Flamme, die Vieles durchdringen konnte, und er konnte in dieser Form fast alle Grenzen überspringen, nicht nur die Grenzen von gewöhnlicher Materie, die er verachtete.
Deshalb hatte er Dunkelheit zu seinem Kleid gemacht, nachdem er mit seinen Geistwesen Krieg gegen seinen Ursprung geführt hatte. Ein Drittel der Sternensysteme wurde verbrannt, und seine Niederlage war voller Schmach und er wünschte, die Nacht würde ewig währen. Denn nichts hasste er so sehr wie das Licht, und doch musste er es mit seinen Sinnen wahrnehmen, um es bekämpfen zu können. Und so blickte er voller Abscheu und Hass auf das Sichtbare, das er nun schmerzend sah, und das seinen Geist und seine Augen blendete wie noch nie etwas zuvor.
Er erblickte Umrisse und Formen und Farben und es ekelte ihn. Er durchstreifte fremde Welten und Entsetzten bemächtigte sich seiner. Entsetzen, da etwas aus dem Schatten getreten war, weil er wusste, der Wille der weißen Macht hatte dessen Gedanken, dessen Worte zu Materie werden lassen, eine vergängliche und schwache Form des Seins, das dem Toten seines Herzens völlig widersprach. Doch er spürte seit seinem Erwachen auch den belebenden Hass, der durch sein schwarzes Herz rauschte wie dunkles Feuer, er spürte seine eigene Bosheit und er nährte sich von seiner Grausamkeit und war zufrieden mit sich selbst.
Das tiefe Loch in seinem Geist, den Neid auf die Auserwählten, über die er viele Gerüchte hörte, die aber noch nicht erschienen waren, der Neid auf die weiße Macht selbst, der alles Leben in ihm zerfressen hatte, diesen Abgrund in sich, hatte er tief abgespalten, so tief, dass es zu etwas Unwirklichem geworden war und Nichtigkeit und Zerstörung war die einzige Frucht die er jemals sah und jemals genießen könnte. Doch diese Wunde weckte in ihm nur ein wahnhaftes Verlangen, eine dunkle Leidenschaft, denn er würde auf immer derjenige sein, der als Einziger der weißen Macht getrotzt hatte, der sein eigener Herr war, er, der einzig Freie im jungen Universum.
Aber dann legte sich eine schwere Last und tiefe Benommenheit auf seinen Geist, und er spürte, es war die Gegenwart der Macht, die nun überall war, und die er nicht ertragen konnte. So fiel Leviathan abermals in eine tiefe Erstarrung und er wurde verbannt in einen namenlosen Abgrund.
***
Weitere Zeitalter vergingen und er öffnete seine Augen.
Wohin er blickte, sah er noch mehr Sterne und er sah noch mehr Galaxien und ihm wurde übel von der Flut an Licht, das ihn traf. Strahlung verschiedenster Art, Energie, die man sehen konnte, Energie, die man hören konnte, Energie, die Unsichtbares erhellte, Wellen, die jedes Leben töten konnten, weil ihre Kraft zu gewaltig war, Energie, die alles durchleuchten konnte. Und in seinem Hass auf das Licht vernichtete er Sterne und legte Galaxien in Asche.
Doch es gab Grenzen, die selbst er nicht überschreiten konnte, und das wusste er.
Nicht alles konnte er zerstören.
Dieses Wissen vermehrte seinen Hass, denn er, der Grenzenlose wurde begrenzt und das war eine unerhörte Demütigung für sein stolzes Wesen. Voller Zorn hob er so seine Augen und blickte in die lichtdurchflutete, glitzernde Weite vor ihm. Seine Augen brannten und tränten von dem schmerzenden Anblick, doch er hielt stand!
Seine Augen streiften ziellos umher, doch dann sah er eine Region am Rand eines silbernen Bandes, das wie verschüttete Milch aussah. Sie war sehr dunkel und seine schmerzenden Augen beruhigten und entspannten sich.
Am Rand seines Gesichtsfeldes nahm er ein leichtes Flackern wahr, einen unmerklichen Schimmer. Es wäre ihm nicht weiter aufgefallen, denn was sollte es in dieser dunklen Region geben, doch dann sah er, dass diesen Punkt eine blaue und hauchdünne Hülle aus Gas umkleidete. Er erblickte noch einen Punkt direkt daneben, der genau so aussah.
Ein Zwilling.
Der Anblick erinnerte ihn an blaue Saphirplatten, riesige Wasserflächen zwischen braun geschecktem Land.
Wie die türkisfarbenen Edelsteine der jenseitigen Welten, über die er einst wandelte, und aus denen er verbannt wurde …
Sein lautes Brüllen stürzte die Milchstraße in Chaos.
Und in schnaubendem Zorn stürzte sich Leviathan auf diesen Planeten. Er war beseelt von einem Verlangen, einer einzigen Gier: Er würde zerstören, was die weiße Macht geschaffen hatte, er würde den Samen des Menschen verschlingen, träfe er ihn. Er würde diesen lächerlichen Planeten, dieses Staubkorn inmitten unendlicher Weiten zwischen seinen Gedanken zerquetschen wie eine Mikrobe und er würde sie mit sich in das namenlose Nichts reißen. Denn war er nicht der Glänzende? Diesen Glanz sollte niemand mit ihm teilen. Er war und blieb das Erste der geschaffenen Wesen! Doch ihm gebührte noch so viel mehr.
Er hörte nichts, sah nur sich selbst, als er wie ein Komet und gleich einem der Göttersöhne auf diese erwachende Welt stürzte. Sterne und Planeten jagten an ihm vorüber, während die sonnennächste der beiden Kugeln größer und größer wurde.
Und sie strahlte blau im Dunkel der Nacht, und Leviathans Flamme wurde weiter geschürt und das Feuer seiner Rache war bereit, alles zu verzehren.
So erschien er wie der Drache, der das jungfräuliche Kleid der Venus, des Planeten der Liebe, wie sie später genannt werden sollte – oh, wie sehr hasste er dieses Wort – zerfetzte, oder wie ein Sturmwind, der ihre blauen Meere peitschte und das grüne Land überflutete …
***
Denn Jahrmillionen später, als Venus längst verwüstet war, und sich in die glühende Hölle von heute verwandelt hatte, erdachten die Menschen, die nun auf der Erde lebten, Lieder und Mythen über dieses unheimliche Wesen, von dem die Ahnen geraunt hatten, und das sie doch nur schauten in wirren Visionen und dunklen Albträumen …
Und Leviathan erblickte auf Venus den Ort, den die weiße Macht für die Menschenkinder bereitet hatte, den paradiesischen Bezirk, den er ihnen zum Besitz überließ. Einen Ort der Gemeinschaft mit ihm selbst, an dem er sie groß zog, sie vorbereitete und reif werden ließ, um sie zu befähigen für das große Werk, nicht nur Venus zu bewahren und sie zu kultivieren, sondern, wie er selbst, über weit mehr zu regieren.
Und der Drache erhob seine Augen, und erblickte zwei Bäume in der Mitte dieses verborgenen Ortes zwischen den Sternen:
Der erste Baum war groß und mächtig und seine dichte Krone reichte bis in das All hinein, und leuchtendes Grün war sein Kleid und das Feuer ewigen Lebens pulsierte in seinen Adern, und erhellte den halben Planeten. Es war ein betäubender Anblick und die Hitze, die von ihm ausging, war so groß, dass er nicht näher treten konnte. Die Flamme des Lebens loderte weit in den Äther hinein.
Der andere Baum war nicht minder mächtig, doch nicht so farbenfroh, aber unbedingte Macht und Autorität und Eiseskälte strahlten von ihm, und es wurde so kalt, dass er auch hier nicht näher treten konnte. Die zwiespältige Fähigkeit, zu scheiden, Gutes von Bösem, Richtig von Falsch, war tief eingegraben in seine dicken Wurzeln.
Und Leviathan erkannte, dass nur die weiße Macht selbst von den Früchten dieses Baumes kosten konnte, ohne durch vollkommenes Wissen, vollkommene Erkenntnis und vollkommene Macht verdorben zu werden. Jedes andere Leben hingegen würde dieses Wissen in den Wahn treiben. Plötzlich durchzuckte ein Gedanke voller Wonne und Bosheit sein Wesen und er zitterte vor Begierde:
Wenn es ihm gelänge, die Menschen zu verführen, um nur einmal, nur ein einziges Mal, von den kalten und betörenden Früchten zu kosten, ihre Süßigkeit und berauschende Macht in sich aufzunehmen, so war der Mensch verdorben für alle Zeiten und der Plan der weißen Macht, die Menschen als Erben einzusetzen, wäre zunichte, und Leviathan würde für seine Schlauheit anerkannt und gefürchtet werden von allen Wesen der jenseitigen Welten.
So verbarg er sich im Kleid einer Schlange und er lauerte und wartete im Dickicht des üppigen Waldes. Und er wartete tausende und Abertausende von Jahren. So hatte er genügend Zeit, seinen Verrat zu planen. Zu seiner Bosheit gesellte sich Verschlagenheit. Und im Dickicht des Waldes studierte er das naive Wesen des Menschen und er lernte gut.
So näherte er sich ihm manchmal in Gestalt eines Tieres, und der Mensch sah ihn neugierig an, doch voller Vertrauen, denn er kannte noch keine Furcht, und so lernte Leviathan die Schwachheit des Menschen kennen und für seine Zwecke zu nutzen, und er entschied sich, nun endlich seinen Meisterplan umzusetzen: Den Menschen, das Siegel und den Ruhm des Mächtigen, für immer zu verderben und ihn zu einem Feind der weißen Macht zu dressieren.
Und so erschien ihnen Leviathan am Ende:
Glänzend und in vielen Farben schillernd, reich an uraltem Wissen und gesättigt von himmlischer Weisheit. Seine Stimme klang wie der Gesang der Sterne und wie das Rauschen der Brandung in den jungen Meeren, wenn sie auf felsiges Land trafen. Und der Mensch dachte bei sich:
Welch wunderbares Wesen, dies muss ein Gott sein.
Und der Mensch war schwach, und sein Widerstand brach schnell, und so gab er sich dem Drachen willig hin und er aß von der Eisesfrucht und der Plan Leviathans ward mit Erfolg gekrönt. Doch als der Mensch den letzten Bissen geschluckt hatte, legte sich ein Schatten über seine Augen, und er sah die Welt nur noch im Dämmerlicht. Angst erfasste ihn, etwas völlig Neues, denn die Dunkelheit nahm zu und wurde dichter. Zwar hörte er noch die Stimme des Mächtigen, doch ohne sehen zu können. Und der Mensch blickte verzweifelt zu den Sternen, doch er sah nur bleiernen Himmel über sich und er konnte keine nächtlichen Lichter mehr erkennen.
Als die weiße Macht den verwüsteten Ort betrat, erschrak Leviathan zutiefst, denn er war doch verbannt vom Thron des Himmels und er wagte nicht, in das verzehrende Feuer zu blicken, noch seine Augen zu erheben.
So flüchtete er in das Dickicht des grünen Waldes. Aber dann vernahm er einen ehernen Klang direkt hinter sich, und es schien, als befände sich die weiße Macht in seinem Kopf und die Autorität der Stimme war so gebietend, dass er sich nicht mehr bewegen konnte, und auf den Boden starrte.
In dieser demütigenden Haltung vernahm er das Urteil:
Drache, höre! Es wird sich ein Stern erheben aus dem Geschlecht der Menschen, und er wird hoch erhöht sein, und mit seiner Ferse wird er dein Haupt zertreten. Und ich setze Feindschaft und erbitterten Krieg zwischen deine Nachkommen und seine. Dieser Krieg wird währen, bis die Sterne vom Himmel fallen und die Elemente vor Hitze vergehen. Und du wirst in ewiger Furcht vor ihnen leben und sobald du Sieg erringst, werden viele Niederlagen folgen; und doch sollst du die Herrschaft erhalten über ihren Planeten, denn ihr Wille ist mir dennoch heilig, und sie haben es nicht anders gewollt.
Und der Mächtige vertrieb den Drachen aus dem verwüsteten Ort, zusammen mit dem Menschen, zu dem er sprach: »Du hast den Tod verdient dafür, dass du diese Welt dem Bösen preisgabst, und deinetwegen der Fluch auf ihr lastet. Doch ich bin barmherzig und du wirst nicht sterben. Ja, sogar mehr: Aus dir wird einer kommen, der den Tod besiegt.«
Und der Mensch fiel in den langen und tiefen Schlaf, so lange, dass er sich niemals daran erinnern würde und auch die Wonne vergaß, in der er einst lebte. Denn der Planet, auf dem sich der Garten einst befand, war nun verflucht und verdammt um des Menschen willen, und die weiße Macht bereitete einen anderen Ort vor, für einen neuen Anfang.
So vergingen die Zeiten und Äonen auf einem Planeten, der Erde oder Terra genannt wurde, und auf dem sich üppiges Leben entwickelte: Grüne, und herrliche Wälder. Mächtige und anmutige Tiere. Wilde und brausende Ozeane.
Und dann, eines Tages, öffnete der Mensch seine Augen in einer neuen Welt.
***
Aber auf Venus setzte die weiße Macht Wächter ein, um den verfluchten Ort zu bewachen, als Warnung, und damit sie nicht neuen Verrat erleide, durch die Chaosmächte des Himmels.
Und die weiße Macht übergab dem geweihten Engelswächter das flammende Schwert, in dem sie selbst lebt, ein Schwert, das scheidet Licht und Dunkel, Lüge und Wahrheit, ein Schwert, das alles Böse entlarvt, ein Schwert einzigartig und fähig, das Gefüge des Kosmos ins Wanken zu bringen. Und die weiße Macht überreichte es Dōr, dem Hüter der Lebensflamme, dem zweiten geschaffenen Leben nach Leviathan, dem Verfluchten.
Leviathan aber war den Menschen in unkenntlicher Gestalt gefolgt – manche sagen, er wäre wie ein Komet zur Erde gestürzt.
Doch als er den Menschen dort erblickte – er erinnerte sich mit Schrecken an den Fluch – floh er in hellem Entsetzen vor ihm in die tiefsten Schichten der Erde.
Hier endlich verbarg sich der Geist der Schlange in dem heißen und flüssigen Gestein und er wob sein Gift und erdachte einen neuen Plan zur Versklavung und Zerstörung des Menschen. Denn, was der Mensch in seiner Naivität nicht ahnte: Leviathan hatte die Flamme vom Baum des Lebens in jenem Garten auf Venus genau studiert. Die Flamme, die der Baum in das All spuckte, war ein Plasma aus Wasser, Feuer und Licht. Lebendiges Wasser strömte darin als eine kristalline Flüssigkeit, so wie Blut, doch nur schwach rötlich gefärbt, und das Feuer verbrannte jede Unreinheit und sein Licht erhellte jede Dunkelheit, materiell wie geistig.
Und obwohl Feuer und Wasser Antagonisten sind, löschten sie sich nicht aus, sondern verbanden sich zu atemberaubender Brillanz. Und die Flamme bildete zusammen mit dem Wasser die Atmosphäre von Venus, und es entstand zuerst ein Gas, eine Art Schutzhülle um Venus, so dass die Wärmestrahlung der Sonne nicht mehr in den Kosmos entwich, wie auf den meisten Planeten, sondern auf ihre Oberfläche zurückgestrahlt wurde. Denn Wasserdampf und Kohlendioxid, das in großer Menge im tiefen Gestein von Venus gespeichert war, wurde durch den Baum und den Vulkanismus in die Atmosphäre geschleudert. So wurde über Jahrmillionen die Temperatur auf dem Planeten so angenehm wie auf keinem anderen Ort im Sonnensystem, und es wurde ein wahres Paradies daraus und es wurde zu dem Ort, den die weiße Macht für den Menschen bereitet hatte. Er erinnerte sich gut.
Und hier, im flüssigen Gestein der Erde, blieb Leviathan nicht untätig, und wob sein Gift und erschuf in der Länge der Zeit ein eigenes Molekül, ähnlich dem des gefrorenen Baumes, das aber Tod und Vernichtung bedeutete für jedes biologische Leben. Er kopierte seine DNA, und vervielfältigte sie millionenfach, und sie sah aus wie das Echte, war es aber nicht. Denn was er schuf, war nicht lebendig, und besaß nur die äußere Struktur einer Zelle, doch aus anorganischem Material. So wie falscher Weizen, der als Unkraut in ein Feld gesät wird, und mit ihm wächst.
Und dies Plasma war erschaffen, um die Erbinformation jedes lebendigen Wesens zu zerstören, und es mutierte und wuchs heran, bis es die Zellen in ihm verschlungen hatte. Außerdem konnte Leviathan es zu einer vernichtenden Explosion bringen, wenn er wollte, denn es reagierte aufgrund chemischer Reaktion vernichtend mit jeder positiven Materie, und in seinen atomaren Eigenschaften war es reine Antimaterie.
Und er nannte das Molekül ›Tod‹, gemäß seinem eigenen Herzen. Aber er wusste dennoch, dass ein Tropfen vom Plasma des Lebens ganze Meere von Tod auslöschen konnte. Denn Leben ist stärker als Tod. Das war das Gesetz des Universums, das er zwar hasste, gegen das er rebellierte, wo er nur konnte, doch es war existent.
Aber er wusste um die Neigung zum Bösen im Herzen des Menschen. Denn er, Leviathan, hatte ihm dieses Böse gebracht, und darauf war er stolz bis alle Ewigkeit. Dieses Böse, dieser unscheinbare Same, der wachsen würde, wie eine unscheinbare Mutation, er würde den Menschen schließlich zu Fall bringen. Die Urinfektion geschah durch die Frucht des Verstehens auf Venus, und dem Verlangen nach Wissen um des Wissens willen, wofür der Mensch nie erdacht war. Seit dieser Infektion war er anfällig und schwach, denn er war verdorben und leicht empfänglich für das Protoplasma, und wenn er es einnähme, würde es ihn in seiner Beziehungsfähigkeit vollends töten und es würde keine Erlösung mehr für ihn geben und er würde für immer in die Schatten sinken.
Ja, das gefiel ihm!
Und das Gift seines Hasses wurde dem Menschen seit dieser Zeit in geringsten Mengen eingeflößt, die Dosis wurde nur langsam erhöht, damit der Mensch nicht zu sehr über sich erschrak, doch sein Herz veränderte sich, und der Mensch wurde schwer fähig, Gutes zu erkennen und zu tun.
Und der Mensch erwählte den Krieg gegen die Unschuldigen und er erwählte bloße Macht ohne Liebe, und Schrecken ging vom Menschen aus, und selbst die Tiere begannen, vor ihren Meistern zu fliehen.
Und zur Fülle der Zeit, als der Schlangentöter geboren wurde, jener, der der Auserwählte genannt wird, wurde Leviathan durch ihn eine tödliche Wunde zugefügt, doch vernichtet war er nicht, ja, seine Wut loderte noch heller und sein Hass wurde zu einer verzehrenden Flamme.
Und die Großen der Erde verführte er durch seinen Wahn, so dass sie ihre eigenen Völker abschlachteten, und das Blut Geborener und Ungeborener floss zur Boden wie unreines Wasser.
Zu dieser späten Zeit entschied der sich Windende erneut, seine Heere zu sammeln, zu einem vernichtenden Schlag und er beschloss, seine tödlichste Waffe einzusetzen, das Molekül des Todes, nun entfesselt, das jedes Leben vernichten sollte.
Und Leviathan beschloss, den Kampfplatz auszuweiten auf den Raum zwischen den Sternen. Doch die Grenze seiner physischen Macht war die Grenze des irdischen Sonnensystems. So war es ihm von der weißen Macht bestimmt, und er konnte sich nicht darüber hinweg setzen.
Und so platzierte er das Plasma des Todes auf einem Planeten, dem ersten außerhalb des irdischen Sonnensystems, einem Planeten, den die Menschen in ferner Zeit gerade noch würden erreichen können …
Sobald wir unsere Grenzen akzeptieren,
können wir sie durchbrechen.
Albert Einstein
Zwischen Mars und Erde, 2344
Davidé Pascal beugte sich über ein uraltes Dokument. Es stammte aus dem Erbbesitz seiner Familie, und der Verfasser war sein Urahn in achter Generation. Es handelte sich um ein echtes, abgenutztes Notizbuch aus Papier, und jener entfernte Vorfahr, ein Mann namens Dennis Meyer, hatte es in Jerusalem auf der Erde im Jahr 2060 verfasst, kurz vor seinem Tod.
Verträumt roch Davidé an den schon speckigen Seiten und strich liebevoll mit seinem Finger über die feinen Buchstaben. Natürlich war der Text längst digitalisiert, aber er liebte diesen muffigen Geruch und die ehrwürdige Aura, die alte, handgeschriebene Texte umgaben.
Es hatte etwas Magisches.
So wie die Welten, die ihn umgaben.
Davidé betrachtete die unzähligen Lichtpunkte, Sterne und Nebel, die in majestätischer Ruhe an seinem Kabinenfenster vorüber glitten, doch seine Gedanken begaben sich auf eine andere Reise, eine entferntere, und vielleicht lenkten sie ihn ab von der unterschwelligen Furcht, den diese grenzenlose und tödliche Umgebung immer noch auf ihn ausübte. Sie wanderten zurück in die Vergangenheit, und zur Wahlheimat jenes Menschen, der sein Schicksal mehr bestimmen würde als jeder andere …
Das aufrührerische Israel war das einzige Land auf seinem Heimatplaneten, das noch als souveräner Staat existierte, sonst gab es nur noch die Einheitsstaaten, die in Nord-, Süd-, Ost- und West-Hemisphären unterteilt waren, natürlich mit allerlei Unterdistrikten und größeren Verwaltungseinheiten.
Das immer totalitärer agierende Regime der Welteinheitsregierung hatte diese Hemisphären fest in ihrem Griff, und sie herrschte mit starker Hand.
Es herrschte zwar überall weitgehender Wohlstand, der Hunger und damit die Verteilungskämpfe, waren dank der überlegenen Technologie des genetischen Anbaus von Nahrungsmitteln kein politisches Problem mehr, dafür waren die Menschen träge und antriebslos geworden und sie waren meist willenlose Gefolgsleute ihrer regionalen Machthaber und waren meist arbeitslos, denn die humanoiden künstlichen Intelligenzen erledigten alles schneller und besser.
Israel war als Relikt eines Nationalstaates des 20. Jahrhunderts in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Die Ursache dieses Alleinstellungsmerkmals lag in der langandauernden und emotionalisierten Feindschaft der meisten Regionen dieser Welt gegen Israel. Diese rassistische Abneigung gegen ein spezielles Volk wurde in früheren Jahrhunderten Antisemitismus genannt.
Heute gab es diese Bezeichnung offiziell nicht mehr.
Insbesondere die arabischen Staaten, die Israel an Landfläche in etwa 300:1 überlegen gewesen waren, hatten diesen Staat im 20. und 21. Jahrhundert wie eine Feuerwand umschlossen und in langen und blutigen Kriegen versucht, der ›zionistischen Entität‹, wie sie es nannten, ein Ende zu bereiten. Doch wie durch ein Wunder war ihnen dies nie gelungen, obwohl ihre Militärmacht an Menschenmasse und Material weit überlegen war. Dies verstärkte zwar ihre Wut, doch Anfang des 22. Jahrhunderts zogen sie sich aufgrund des Druckes ihrer Bevölkerungen, denen die siegestrunkenen Parolen ihrer religiösen Führer zum Hals heraushingen, zurück, und schlossen sogar Militärbündnisse mit einem Staat, den sie Jahrhunderte lang nicht anerkannt hatten.
Durch diesen dauerhaften Kriegszustand war Israels Militärmacht mit der Zeit ungewöhnlich schlagkräftig und innovativ geworden, und selbst die vereinten Regierungstruppen hatten in den letzten Jahrhunderten schwere Niederlagen erlitten, von denen sie sich noch nicht vollkommen erholt hatten. Denn einige westliche Führer hatten den Parolen von islamistischen Hardlinern Glauben geschenkt, und sich an den Kriegen gegen Israel beteiligt.
Doch zu seinen militärischen Erfolgen gesellte sich die technologische Spitzenstellung Israels in fast allen naturwissenschaftlichen Bereichen und machte den winzigen Staat, der an einer strategischen Schnittstelle zwischen westlicher und östlicher Welt lag, zu einem unglaublich erfolgreichen und wohlhabenden Land.
Denn die fortschrittlichsten Methoden zur Aufzucht von genetisch veränderten Pflanzen und somit Nahrungsmitteln in fast beliebiger Menge, die auf den kärgsten Böden der Welt gediehen, waren in den 2050er Jahren in Israel entwickelt worden, und diese Spitzenforschung, die es vielen ärmeren Ländern in den zurückliegenden Hungersnöten, Dürren und Verteilungskämpfen der letzten zweihundert Jahre erst ermöglichte, zu überleben, machte es zunehmend unmöglich, die großen und überwiegend armen Menschenmassen – denn der Ölreichtum der Golfstaaten war mit dem Versiegen der fossilen Brennstoffe Makulatur – der arabischen Welt gegen Israel zu mobilisieren.
Es war also eine Hass-Liebe, die weite Teile der Bevölkerungen der vier Welt-Hemisphären mit Israel verband: Sie wussten, dass sie ohne die innovative Kraft Israels in viel schlechteren Verhältnissen leben müssten – sofern sie die Wirren der letzten Jahrhunderte überlebt hatten –, aber sie hassten Israel aufgrund seiner Unabhängigkeit, seiner militärischen Stärke, seines Einflusses und seiner Ausnahmestellung in vielen Bereichen.
Ja, es ist der blanke Neid, der schon immer das Verhängnis Israels war, dachte Davidé, der die Geschichte seines Volkes gut kannte, und dessen Vorfahren – was mit dem außergewöhnlichem Erbe des Verfassers dieser Zeilen zu tun hatte – viele Gelehrte und berühmte Geisteswissenschaftler hervorgebracht hatten. Dennis Meyer, der sowohl deutscher wie auch israelischer Staatsbürger gewesen war, was eine sehr ungewöhnliche Kombination darstellte, galt als ein Prophet seiner Zeit, ein Abenteurer und Politiker, der Israel mit ganzer Hingabe unterstützte und sein ganzes Herzblut in die Sicherheit dieses bedrohten Landes investiert hatte. Dennis hatte damals vor der Vorläuferorganisation der Welteinheitsregierung, der UN oder den Vereinten Nationen, eine richtungsweisende Rede gehalten und mit scharfen Worten die damals schon sich abzeichnenden totalitären Tendenzen einer erzwungenen Welteinheit angeprangert.
Damals kam es zu einer großangelegten Verschwörung der UN und der OIC, der Organisation islamischer Staaten, Israel wirtschaftlich und dann im Idealfall militärisch zu vernichten. Dennis hatte diese inoffizielle Konspiration einiger sehr mächtiger Männer und Frauen mit Hilfe einer geheimen transzendenten Kraft, die bis heute Rätsel aufwarf, verhindert, und das UN-Gebäude in New-York wurde wohl von dieser Macht in einer Art Explosion oder Beben komplett vernichtet. Dieses rätselhafte historische Ereignis, dessen Folgen sehr handfest und politisch sichtbar waren, wurde im Lauf der Jahrhunderte zu einer Art Mythos, und es ließ sich heute nicht mehr feststellen, was daran wahr oder falsch war und unzählige Schriften und Verschwörungstheorien waren darüber publiziert worden.
Doch nach Jahrzehnten der Untersuchungen zu diesem welterschütternden Vorfall, der die UNO nachhaltig schwächte, kam zumindest heraus, dass es militante Islamisten im Auftrag hoher UN-Funktionäre gewesen waren, die diesen vermeintlichen Terrorakt Israel in die Schuhe schieben wollten, um dieses im wahrsten Sinne welterschütternde Ereignis zu nutzen, einen Krieg der vereinten Nationen gegen Israel zu provozieren. Einige der arabischen Initiatoren der Kriegsgelüste gegen Israel, sagten damals aus, ›ein schwarzer, großer Schatten in Form eines riesigen Adlers‹ habe ihnen geholfen, ›das Werk zu vollenden‹, aber die Welt und auch Davidé fanden das nicht sehr glaubhaft. Jedenfalls ging dieser Plan gründlich schief, ja, er half sogar dabei, den politischen Islam, der im 20. und 21. Jahrhundert durch seinen inhärenten Terrorismus gegen Zivilisten nicht geringes Entsetzen unter den Nationen der Welt hervorrief, zu entlarven, was dazu führte, dass die Weltreligion des Islam heute zu einer religiösen Minderheitssekte geworden war, der nur noch etwa ein Prozent der Bevölkerung von anhingen.
Welch Glück, dachte Davidé, der sich traurig daran erinnerte, wie viele Mitglieder seiner Familie in den letzten Jahrhunderten durch islamistische Fanatiker zu Tode gekommen waren. Aber die Nazis hatten es ja auch lediglich geschafft, das halbe Volk zu vernichten und nicht alle …
Er spürte, wie Bitterkeit in ihm aufstieg.
Er starrte wieder auf Seite 25 des Notizbuches, und las zum wohl hundertsten Mal eine Botschaft, eine Art Vermächtnis, das Dennis Meyer kurz vor seinem Tod geschrieben hatte, und das in seiner ganzen internationalen Verwandtschaft bekannt war.
(…) Ihr Menschen seid für die Weite erschaffen worden, und zum Licht wirst du fliegen. Nicht du selbst, einer derer, die von dir abstammen. Deine Nachfahren werden fortführen, was du begonnen hast.
So stand es da, in der geschwungenen, ausdrucksstarken Handschrift seines Vorfahren. Es war eine Prophezeiung, ein Blick in die Zukunft, im Namen der weißen Macht, wie sie heute von der Bruderschaft genannt wurde, die sich nun, hunderte Jahre nach der Niederschrift, mit ihm selbst, Davidé Pascal, einem französisch sprechenden Offizier aus der westlichen Hemisphäre, der französischen Region Groß-Paris, erfüllen sollte.
Davidé war jüdischer Abstammung, liberal, nicht fromm, wie er immer betonte, denn seine Vorfahren stammten nur deshalb aus Israel, weil Dennis damals eine Jüdin geheiratet hatte. Ein Erbe, das eine Last bedeutete – und zugleich auch ein Privileg war. Er erinnerte sich an den Juden Albert Dreyfuss, der vor fast fünfhundert Jahren auch Offizier im damaligen Frankreich war, und in Paris wegen Spionage und Hochverrat verurteilt worden war. Zu Unrecht, denn die Beweise waren fingiert, und er wurde nur angeklagt, weil er Jude war. Diese Affäre, die die alte jüdisch kosmopolitische Welt erschütterte und direkter Auslöser für das Betreiben Theodor Herzls war, einen Staat Israel gründen zu wollen, eine Zuflucht für das ewig verfolgte jüdische Volk, war schon immer rätselhaft und faszinierend zugleich für Davidé gewesen. Dieser Polit-Skandal war zum Weckruf für die jüdische Welt geworden, denn sie zeigte mit erschreckender Klarheit: Ein Jude konnte nirgends sicher sein. Außer in seinem eigenen Land.
Ja, es gab Parallelen zu seinem eigenen Leben, dachte er traurig.
***
Lächelnd, aber mit Tränen in den Augenwinkeln blickte Davidé in die fast grenzenlose Schwärze jenseits seines Fensters. Er war der erste Kommandant einer kleinen Flotte von Raumschiffen, die bis zu den Grenzen des Sonnensystems vordringen sollten, und er war wohl das Echo jener Worte.
Seit im Jahr 2050 Mars kolonisiert wurde, und dem Jahr 2083, als dauerhaft Menschen dort leben konnten, hatte die Menschheit zum großen Sprung angesetzt, um einen Blick über die Grenzen des Sonnensystems zu wagen.
Der Planet Mars war durch Terraforming, das Produzieren einer künstlichen Atmosphäre, in Teilen bereits ein grüner Planet. Die chemische Umwandlung von reichlich vorhandenem Kohlendioxid in Sauerstoff war die Grundlage all dieser Bemühungen gewesen. Sauerstoff zum Atmen und auch für die notwendige Verbrennung jeder Art von Treibstoff. Dadurch konnten die ersten Bäume gepflanzt werden, die dann durch ihre Photosynthese die Atmosphäre mit natürlichem Sauerstoff anreicherten. Allerdings existierte diese Atmosphäre zum jetzigen Zeitpunkt nur in einem gigantischen Treibhaus, 10.000 Quadratkilometer groß, und lediglich drei Millionen Menschen konnten dort leben, meist sehr reiche Nachfahren von Akademikern und Wissenschaftlern, die sich in den hundert Jahren der ersten Besiedelung des Planeten immensen Reichtum erworben hatten. Erst in einigen hundert Jahren würde man von einer zweiten Erde sprechen können. Es waren die Nachfahren der Mars-Pioniere, vergleichbar den Westmännern zur Erschließung des amerikanischen Kontinents im 18. und 19. Jahrhundert. Riesige Vorkommen von Methangas waren tief im Gestein von Mars entdeckt worden, und in Verbindung mit hunderten Quadratkilometern großen Parabolspiegeln in der Hochatmosphäre, die die Sonnenenergie absorbieren konnten, war die Gemeinschaft dort mittlerweile energetisch autark.
Natürlich wäre ohne Wasser nichts davon möglich gewesen, und es war in einer riesigen Gemeinschaftsanstrengung aller terrestrischen Energiekonzerne gelungen, die gewaltigen Eispanzer an den Polen des Planeten zum Schmelzen zu bringen und in Kanäle zu leiten, die das Gebiet des 10.000 Quadratkilometer großen Habitats durchzog wie die Kanäle im alten Mesopotamien. Davidé musste zugeben, dass diese gewaltige Leistung ohne die einende Kraft einer gemeinschaftlichen Vision unter Federführung der Einheitsregierung der vier Weltsektoren nicht möglich gewesen wäre. Doch nun, und vielleicht siegestrunken durch diese bahnbrechenden Erfolge, konnte sich diese Regierung und ihre Funktionäre beinahe alles erlauben und fast jeder Bewohner der Erde, manipulierbar, wie Menschen waren, machte mit. Die Bewohner der Kolonien im inneren Sonnensystem waren etwas unabhängiger, da weit entfernt von der Zentralregierung, und das barg in sich den Keim von Unabhängigkeitsbestrebungen, die durchaus in kriegerische Auseinandersetzungen münden könnten, und die Zentralregierung war sehr besorgt deswegen.
***
Doch auch auf der Erde gab es jene, die das Heilige bewahrten, es gab jene, die das Schwert besaßen. Diese Bruderschaft, der er selbst angehörte, galt den Behörden als suspekt, da unabhängiger und weniger kontrollierbar als die meisten Einwohner.
Das zweischneidige Schwert war nur eine symbolische Waffe, es schmückte die Insignien der Bruderschaft und stand für die klare Scheidung zwischen Licht und Dunkel, Wahrheit und Lüge, Liebe und Hass; dies war nach Meinung der Gläubigen notwendig in einer Gesellschaft, in der nichts mehr als wahr galt, aber alles als beliebig. Einer Gesellschaft, in der es kaum mehr echte Gefühle gab, weil man keinen Grund mehr sah, irgend ein Ziel zu erreichen, da ja sowieso alles gleich war, und und somit nur subjektiv bedeutend. Es war wohl dieser morbide und erstickende Relativismus und Nihilismus, die Verneinung absoluter Wahrheit und Wirklichkeit, der die Gründer dieser Gemeinschaft dazu trieb, Dinge klar benennen zu wollen.
Früher nannten sie sich Christen, durch zwei Jahrtausende hindurch, doch als die neue Welteinheitsregierung die vormals größte Weltreligion verboten hatte, da sie sie als Bedrohung betrachtete, musste sie sich neu formieren, in den Untergrund gehen, und nannte sich seitdem Bruderschaft des Schwertes.
Es war eine zweifache Spitze: Sie nannten sich ›Bruderschaft‹ und verstießen damit gegen das Gleichheitsgesetz der Regierung, das zum Beispiel besagte, das sexuelle Geschlecht wäre ein rein soziales Konstrukt, und man dürfe wählen, wer man sein wolle und wechseln so oft man wolle. Zweitens verstieß diese Selbstbezeichnung, die das Wort ›Schwert‹ im Namen trug gegen das Gesetz des ›Friedens und Toleranz‹, das besagte, alles sei erlaubt, solange es zu keinen kriegerischen oder schweren kriminellen Handlungen, wie Mord, Gewalt oder Raub komme. Die Einheitsregierung hätte die Bruderschaft liebend gern verbieten und vernichten wollen – doch mittlerweile gehörte ihr ein Fünftel der Weltbevölkerung an, und es wäre auch damals nicht möglich gewesen, das innerplanetarische System ohne ihre Hilfe und ihre Stimmen zu kolonisieren.
Denn es hatte seit zweihundert Jahren immer wieder große Wellen von Erneuerung gegeben, und ganze Großregionen hatte sich dem neuen und doch alten Glauben mit großer Hingabe und Entschlossenheit geweiht. Auch Tod und Folter hatten sie nicht abgeschreckt. Es schien, je mehr die Weltregierung den Glauben verfolgte, je stärker wurde er. Schließlich hatte die Regierung aufgehört, die Bruderschaft offiziell zu verfolgen und verlagerten ihre Strategie: Diese internationale Gemeinschaft, die sich als Familie verstand, und in der Scharen Entwurzelter, Entrechteter und Armer eine Heimat fanden, wurde von nun an diskriminiert und schikaniert, wo es nur ging.
Aber es gab noch ein Geheimnis: Jeder Bewohner der Erde, ja, jeder Mensch im gesamten System, konnte erkennen, dass eine geheimnisvolle Kraft durch diese Gemeinschaft wirkte, und einige ihrer Mitglieder waren in der Lage, Menschen zu heilen durch Berührung ihres Körpers, einige konnten Wunder wirken und sich an andere Orte versetzen, ja, es gab Gerüchte, dass es Einzelnen möglich war, Totes aufzuwecken, was selbstverständlich von der Regierungspropaganda als Aberglaube betrachtet wurde. Doch jeder aufrichtige Bürger konnte diese Dinge sehen und es geschah nicht in einem Winkel und nicht in Abgeschiedenheit. Das rief Furcht, aber auch Bewunderung in der Bevölkerung hervor.
Vor dieser Bruderschaft des Schwertes also hatte die Regierung Angst.
Warum Davidé als eines ihrer aktiven Mitglieder ein Raumschiff der Einheitsregierung kommandieren konnte, war von ebenso seltsamer Bewandtnis, und er staunte immer wieder darüber, weil er es rational nicht verstehen konnte: Er war Kommandant einer Pionierraumflotte geworden, obwohl er dieser Bruderschaft angehörte. Normalerweise achtete die globale Einheitsregierung strengstens darauf, dass niemand aus der Bruderschaft jemals die Möglichkeit erhielt, in den Weltraum zu fliegen, geschweige denn Kommandant einer militärischen Pioniereinheit zu werden. Soviel er wusste, war er der Einzige, der diesen prestigeträchtigen Status je erreicht hatte. Die meisten seiner Crewmitglieder hatten ihn anfangs gehasst, so wie die Mehrheit der Menschen die ›Brüder‹ verachten, doch seine starke und kraftvolle Persönlichkeit, verbunden mit übernatürlichen Fähigkeiten, wie der Seelenschau, der Fähigkeit, bedingt die Zukunft zu deuten, und einer Gabe der Heilung durch Körperkontakt, hatten ihm zuerst Bewunderung verschafft. Durch seinen Humor gewann er ihre Sympathien und durch seine Demut ihre Freundschaft. Aufgrund seines unerschütterlichen Vertrauens schließlich, dass Unmögliches doch möglich sein könne, gewann er ihr Vertrauen.
Nun akzeptierten sie ihn als ihren Anführer, auch wenn es keiner wagte, sich selbst der Bruderschaft anzuschließen, denn sie fürchteten die Sanktionen der Regierung und sie wollten unbedingt weiter der geachteten Sternenflotte angehören.
Es war eine komische Geschichte.
Er wandte sich wieder dem Buch zu. Der zweite Absatz erschreckte ihn, die Worte machten ihm Angst und er wusste nicht, was sie bedeuteten, doch sie hatten sich tief in sein Herz eingegraben. Sie waren geschrieben in Versform, ganz anders als die anderen Botschaften, vielleicht, um ihre Bedeutung zu unterstreichen.
Für den Auserwählten
Finde das Tor zu den Sternen. Ein Schwert verborgen, zwischen Planeten, an einem uralt Ort. Umjubelt, der sucht und glücklich, der findet. Verletzen wird es, doch endlich zur Heilung. Geschmiedet, zu scheiden: Licht und Dunkel, Wahrheit und Lüge, Gut und Böse. Der, der es führt: Der Krone ist er würdig und ew`ges Leben ihm gewiss.
Seltsame Gedanken bemächtigten sich des jungen Kommandanten. Er spürte die große Schwere hinter den Worten, sooft er sie las. Ein Schatten, den er nicht erklären konnte. Auch, wenn er sie auswendig vor sich hin murmelte.War er jener Auserwählte? War sein Schiff, die Genesis vielleicht das ›Schwert, verborgen zwischen Planeten‹?
***
»Ja, du bist ein Schwert des Mächtigen für diese Zeit«, antwortete ein Wesen, das Raum und Zeit nicht unterworfen war, auf die Gedanken des jungen Kommandeurs.
»Doch anders, als du dir je vorstellen kannst«, fügte er leise hinzu.
Denn Dōr selbst war in der Dunkelheit erschienen.
Er, dem das Schwert überreicht worden war.
Er, der Wächter des Gartens.
Dōr war es einst gewesen, der die große Leere durchschritt, seinen Fuß gesetzt hatte auf ein Staubkorn im All, ein funkelndes Juwel in der Nacht. Und Venus erschien ihm damals wie ein flammendes Zeichen der Hoffnung gegen die große Dunkelheit, die sich ausbreitete wie ein unaufhaltsamer Nebel, als eine ewige Mahnung der weißen Macht, das Universum nicht dieser Dunkelheit preiszugeben.
Und so nahm Dōr willig und voller Freude und in hellem Glanz seinen Platz ein Cherub des Mächtigen, als das erste erschaffene Wesen nach , dem Verfluchten und Abtrünnigen, der den Willen des Erschaffers verriet und seine Schöpfung verdarb, wohin er sich auch wandte.
›Der Kosmos ist mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße‹, sprach damals die weiße Macht zu ihm und Ehrfurcht ergriff Dōr, während er über diese Worte nachdachte. Die weiße Macht hatte gewusst, dass nicht Venus die Heimat der Menschen werden würde. Mit Wohlwollen betrachtete er, ein Mächtiger in Raum und Zeit, nun die Genesis. Er hatte Auftrag, Kommandant Davidé Pascal zu beschützen und ihm den Weg zu bahnen. Er war es gewesen, der es Davidé erst ermöglicht hatte, als Kommandant eine Pioniereinheit zu führen. Ja, er hatte der Einheitsregierung eine gehörige Angst vor dem Unbekannten eingejagt, und ein zufriedenes Lächeln umspielte sein erhabenes Antlitz. Denn er hatte Autorität vom Thron der Macht erhalten, in die Träume der Menschen hinein zu sprechen, und so hatte er die Gedanken der Politiker verwirrt mit der abergläubischen Furcht vor einem gewaltigen Feuer, dass von Davidé ausgehen würde, bekäme dieser nicht die gewünschte Position.
Er lächelte.
Aber davon ahnte Davidé nichts. Ebenso wenig wusste der Kommandant in dem Raumschiff, dass es ein Wesen aus einer anderen Wirklichkeit war, das vor hunderten Jahren einem seiner Ahnen solch großen Einfluss auf die Regierungen der Erde verlieh, dass ein religiös-totalitäres System in sich zusammenbrach, das die Erde für Jahrtausende in Blut gebadet hatte, obgleich es doch stets verstanden hatte, sich als Religion des Friedens zu verschleiern.
Die Macht des Islam war gebrochen worden, und die arabische Nation erwachte aus ihrer Unmündigkeit.
Luna, wie sie genannt wurde, die treue Begleiterin der Erde, und einst aus ihrem Leib gerissen, war Heimathafen der Pionierflotte und nahezu jeder anderen Raumflotte.
Neben den vielen Forschungsstationen, die es dort gab, war der Erdmond Startpunkt für die meisten Flüge ins All, sozusagen die Sprungschanze in die große Leere, denn die Gewichtskraft betrug dort nur siebzehn Prozent im Vergleich zur Erde, was es einem Raumschiff ungleich leichter machte, in den Weltraum zu gelangen, denn es hatte ein viel geringeres Gewicht, als auf dem Heimatplaneten. Außerdem gab es dort keine Reibungsverluste durch eine Atmosphäre, was die Energie, die ein Objekt benötigte, um die Gravitation von Luna zu überwinden, im Vergleich zur Erde wesentlich verringerte – um genau zu sein, man benötigte nur ein Fünftel der irdischen Fluchtgeschwindigkeit. Das war die Geschwindigkeit, die benötigt wurde, um die Gravitationskraft eines festen Objektes zu überwinden, und in den freien Raum zu gelangen.
Es war also ein Katzensprung, wie man sagte.
Davidé grinste über diesen unsinnigen Vergleich. Das waren also seine Monologe …
Sein Handpanel piepste.
Sein zweiter Offizier, Joel Savarro, informierte ihn darüber, dass sie in drei Minuten in die äußere Umlaufbahn von Luna eintreten würden.
»Kommen Sie auf die Brücke, Sir. Einschwenkmanöver in den Luna-Orbit beginnt in Null dreihundert.«
Er sprang von seinem Sessel auf, und Adrenalin flutete seinen Körper, so wie immer, wenn ein Landeanflug begann. In wenigen Sekunden, denn die Genesis war ein kleines Schiff, hatte er den Kommandostand erreicht, wo bereits seine halbe Mannschaft vor den Monitoren saß und die vollautomatischen Manöver kontrollierte, die KI des Schiffes selbstständig ausführte. Nur im Notfall wäre es nötig, auf manuelle Steuerung umzuschalten. Seine Nerven waren dennoch angespannt, denn ein Landeanflug gehörte nach dem Start zu den riskantesten Abschnitten eines Raumflugs.
Doch alles verlief wie immer.
Zwei Stunden später schwebten sie in den riesigen Hangar ein, der verblüffend genau einem Flughafen auf der Erde entsprach. Sie waren im militärischen Sektor der sich bis zum Mondhorizont erstreckenden Raumstation gelandet, und es war der bestbewachte Bereich auf ganz Luna.
Sie hatten mehrere Sicherheitskontrollen passieren müssen, obwohl ihr Transponder-Code sie eindeutig als Genesis auswies, eine der ersten schnellen Fregatten für den interstellaren Raum, die eigens für tiefe Erkundungsflüge konstruiert war. Als die Fregatte andockte, und der Verbindungsterminal zur Station gesichert war, atmete Davidé erleichtert auf.
Joel, der schon vor ihm den Terminal verlassen hatte, sprach eine Zeit mit seinem Handpanel, drehte sich dann um, und kam zu ihm zurück.
»Captain, bitte begeben Sie sich umgehend zu General James Miller auf Station Luna I, der Sie schon erwartet. Anweisung vom Kommandostab. Ich begleite Sie.«
Davidé runzelte die Stirn.
Das war ungewöhnlich, doch er gehorchte. Er war immerhin froh über die Begleitung seines erfahrenen Offiziers, denn das System von endlosen Gängen, Fahrstühlen und elektrischen Beförderungsmitteln war sehr komplex, und er hätte sich nicht wirklich zurecht gefunden.
Als sie nach einer halben Stunde das Vorzimmer jenes Mannes betraten, der seit fünf Jahren die militärischen Geheimoperationen der Space-Force, der Raumstreitkräfte der Einheitsregierung leitete, waren sie doch etwas nervös. Nach fünf Minuten ließen die zwei Soldaten, die stämmig und breitbeinig vor der Bürotür Millers standen, Davidé herein.
Joel sollte warten.
Fünf-Sterne-General James Miller war ein athletisch aussehender Schwarzafrikaner. Er hatte die traditionsreiche Kaderschmiede West-Point auf der Erde mit Auszeichnung abgeschlossen, und sich vor dreißig Jahren Ruhm im gesamten Sonnensystem erworben, als er der Einheitsregierung zur Vorherrschaft im inneren System verhalf. Das war die Großregion um die Erde, Mars, Luna sowie ihren Trabanten und freischwebenden Raumstationen. Er hatte die Rebellion der Kolonisten auf Mars gegen die Zentralregierung auf der Erde niedergeschlagen, und damit die Gefahr einer drohenden Unabhängigkeit von Mars und auch Luna gebannt. Dieser Sieg war ebenfalls notwendig, damit sich die verbliebenen Nationalstaaten auf der Erde endgültig der Einheitsregierung beugten, auf ihre Hoheitsrechte verzichteten, und aufhörten, als anachronistische Staatengebilde zu existieren.
Außer dem Staat Israel. Aber das war ein anderes Problem.
»Schön, dass Sie so schnell kommen konnten, Captain Pascal«, begrüßte ihn Miller knapp.
»Ich gebe Ihnen in den nächsten Minuten als Ihr oberster militärischer Führer einen Einsatzbefehl, der der strengsten Geheimhaltungsstufe unterliegt. Genauere Instruktionen, ein umfassendes Briefing, und ein ausführliches Training für diesen Einsatz erfolgt an einem geheimen Ort auf der Erde. Dies ist ein epochaler Auftrag, Pascal, und er wird vielleicht über die Zukunft von Millionen Menschen entscheiden.«
Der General blickte ihn lange an, als prüfe er, ob Davidé einer solchen Verantwortung gewachsen war.
Davidés Magen krampfte sich zusammen, und seine Knie zitterten. Er spürte vollkommen unerwartet, aber mit hellsichtiger Klarheit, dass es sich um etwas handelte, was sein gesamtes bisheriges Leben verändern würde. Er spürte das Gewicht der weißen Macht in seinem Geist und dessen Anfrage an sein Herz. Nein, keine Anfrage, einen Befehl. Vielleicht einen der sanften Sorte, doch es war unmissverständlich.
»Sie und Ihr Team von Spezialisten sollen einen neuen Ort für menschliches Leben finden. Einen Planeten, der erdähnliche Bedingungen aufweist. Die Bevölkerung der Erde hat im letzten Jahr die dreißig Milliarden überschritten, und dies war die äußerste Grenze der Regierung und des wissenschaftlichen Rates.«
Der General überlegte.
»Wenn Ihnen, wenn uns, das nicht gelingt, muss die Bevölkerung drastisch und künstlich reduziert werden. Wir sprechen hier über Milliarden Menschen, Davidé, ich hoffe, ich muss nicht deutlicher werden.«
So also spricht ein hoher Militär über Notwendigkeiten, dachte Davidé. Ihn fröstelte.
Der General hatte ihn noch nie mit Vornamen angesprochen. Dass er es trotzdem tat, zeigte ihm, dass der Flottenchef an sein moralisches Gewissen appellierte. Vielleicht, weil Davidé der Bruderschaft angehörte, und somit in den Augen vieler Menschen als streng moralische Person galt, vielleicht aber auch, – Davidé blicke tief in Millers Geist hinein – weil er diesen Befehl niemandem erteilen wollte, zu dem er ein rein geschäftliches Verhältnis hatte. Hatte seine Stimme nicht gerade etwas von ihrem gleichmütigen Tonfall verloren?
»Außerdem«, unterbrach der General seine Seelenschau, »benötigt die Erde Rohstoffe. Rohstoffe und Energie. Diese drei vitalen Ressourcen, Lebensraum, Energie und Rohstoffe, könnte ein Stern bereitstellen, der von mindestens zwei erdähnlichen Planeten in der habitablen Zone umkreist wird. Dazu müssen Sie als erster Mensch die Grenzen des Sonnensystems überwinden. Kurz: Die vereinigte Erde mit ihren Kolonien gibt Ihnen hiermit den ruhmreichen Auftrag, eine neue Heimat für die Menschheit zu finden. Sie wurden dafür ausgewählt und Sie wurden vorbereitet, auch wenn Sie nichts davon wussten.«
Daher die Genesis, dachte Davidé.
Beide Männer schwiegen.
Er spürte, wie der General in seinem Gesicht forschte, ob er fähig wäre, jahrelange Isolation zu ertragen. Ob Davidé Pascal willens war, ein Opfer zu bringen, das vielleicht seinen Tod und den seiner Mannschaft bedeutete.
»Wenn Ihnen das gelingt, werden Sie sich unvergängliche Verdienste im gesamten System erwerben. Ihnen werden alle Optionen offenstehen. Bereits im Vorfeld ernenne ich Sie zum Major. Diese Top-Secret-Mission trägt den inoffiziellen Codenamen Projekt Eden. Die Öffentlichkeit wird nur erfahren, dass mithilfe neuester Technologie versucht wird, in den interstellaren Raum vorzudringen, denn es könnte zu einer Panik in der Bevölkerung, bis hin zur Rebellion führen, erführe die Welt, dass die absolute Notwendigkeit bestehe, neuen Lebensraum zu erschließen, da der alte nicht mehr ausreiche. Gerade die Heere von Armen und sozial Schwachen könnten hochemotional reagieren, und beginnen, darüber nachdenken, was passieren würde, könne keine zweite Heimat gefunden werden.
Es ist Ihnen daher, Major Pascal, strengstens verboten, über diese Operation mit Nichteingeweihten zu reden. Sie dürfen den Namen Projekt Eden nicht einmal erwähnen. Das hätte ihre sofortige unehrenhafte Entlassung aus dem Militärdienst zur Folge und würde darüber hinaus militärgerichtlich bis hin zu Hochverrat geahndet werden.«
Davidé war überrascht.
Nein, er war irritiert.
Wieso wurde gerade er für solch eine geheime Mission ausgewählt? Eine Beförderung im Vorfeld militärischer Operation war ungewöhnlich. Rechnete die Space Force nicht mit seiner Rückkehr?
Der General fuhr fort.
»Ich muss nicht extra erwähnen, dass Projekt Eden jede finanzielle und wissenschaftliche Unterstützung erhält, die Sie anfordern. Sie sind sozusagen die Speerspitze, sehen Sie sich als modernen Konquistador an. Bei einem Erfolg werden Ihnen wissenschaftliche Teams folgen. Dann Ingenieure, Techniker und Konstrukteure.«
Der General verschränkte die Hände.
»Haben Sie Fragen?«
»Warum haben Sie gerade mich gewählt? Ich bin doch ein querulanter Anhänger der Bruderschaft, und noch niemals wurde ein Mitglied aus dieser Gemeinschaft mit einer solch wichtigen Mission betraut.«
Miller lächelte.
»Eine gute Frage. Schon seit mehreren Jahren wurde auf Seiten der Kommandoebene der Space Force mit Regierungsvertretern über die Form der Rekrutierung von Talenten diskutiert. In gewisser Weise wurden Sie in die Space Force aufgenommen, um sich zu bewähren, um sich für diesen besonderen Moment der Geschichte zu qualifizieren.«
Dann grinste der General breit.
»Darüber hinaus sind Sie sind ein zäher Hund, Captain.
Sie haben alle Tests bestanden. Aber in Wirklichkeit«, Miller wurde ernst, »haben Sie außergewöhnliche mentale Fähigkeiten. Die meisten Bruderschaftler werden dafür gehasst, das ist mir wohl bewusst, Sie werden dafür geschätzt.«
Es schien Miller schwer zu fallen, das zuzugeben, und darüber freute sich Davidé. Er freute sich darüber mehr als über alle Auszeichnungen. Er freute sich, weil er spürte, dies alles lief nicht seinen normalen Gang, er freute sich, weil alles vorbereitet schien.
»Sie werden drei Monate auf der Erde verbringen. In einer atemberaubenden Umgebung in der Wüste, auf einem militärisch abgeschirmten Gelände. Sie werden trainiert, Sie werden gebrieft, Sie werden wissenschaftlich instruiert, Sie erhalten Unterricht. In dieser Zeit wird Ihr Schiff auf Luna generalüberholt. Elektronik wird eingebaut, Waffen, die neuesten Systeme. Alles, was man so braucht. Sie werden beständig einen kleinen Stab, bestehend aus Savarro und ihrem zweiten Offizier um sich haben, die alle Formalitäten erledigen. Bereiten Sie sich gut auf Ihre Aufgabe vor.«
General James Miller reichte ihm die Hand.
Damit war das Gespräch beendet.
***
Unter der heißen und dichten Atmosphäre des Planeten Venus war ein Geheimnis verborgen. Ein Geheimnis, das die Menschheit noch nicht entdeckt hatte, doch die Dinge würden sich bald ändern.
Dōr lächelte beinahe wehmütig, während er mit seinen Gedanken weit, sehr weit, in die Vergangenheit reiste. Vor hunderten Millionen von Erdenjahren wurde auf diesem Planeten, der heute einem Abgrund glich, der Mensch geboren.
Er wurde geboren, nein hineingerufen, in ein Paradies, in eine ›himmlischen Steppe‹, wie die Sumerer sagten oder einen ›Garten der Götter‹, wie es bei den Griechen hieß.
›Wonne der Menschenkinder‹, sagte die Bibel.
Besungen in den Mythen und Legenden der Völker. Viele Namen hatte dieser Ort seither erhalten, und ferne Gerüchte aus grauen Vortagen hatten Eingang in heilige Schriften gefunden, doch niemand mehr wusste, woher sie genau stammten.
Heute, im Zeitalter des Materialismus und der Dummheit, wurden sie nurmehr als bessere Märchen betrachtet. Etliche Gelehrte unter den Menschen vermuteten zwar schon lange, dass Venus vor langer Zeit der Erde ähnlich gewesen sei, mit Ozeanen, bevor ihre dichte Atmosphäre sie in einen Pfuhl verwandelt hatte, doch warum diese Veränderung wirklich geschah, blieb ihnen verborgen, weil ihr materialistisches Denken sie blind gemacht hatte für größere Dinge …
Und Dōr hörte die Stimme der Macht, so deutlich, als hätte sie gerade erst gesprochen.
Mein Fürst, General der himmlischen Armeen, ich überreiche dir das Schwert, das Glänzende, das Schneidende, das Offenbarende und das Lebendige. Bewahre diesen heiligen Ort vor der Anmaßung des Menschen. Sorge dafür, dass kein Lebewesen diesen Ort betreten kann, bis die Zeit gekommen ist. Denn der Mensch stand kurz davor, so zu werden wie , der Verfluchte. Denn er begehrte Wissen um des Wissens willen, Erkenntnis um der Macht willen, und so musste ich ihn bewahren vor sich selbst.
Daraufhin hatte Dōr die Atmosphäre des erdgroßen Planeten in dampfenden Brodem verwandelt. Die Temperatur stieg unaufhaltsam, der Fels begann zu glühen, damals, als er das flammende Schwert in fürchterlichem Zorn tief in das Gestein von Venus rammte, um ihr heißes Herz zum Stillstand zu verdammen und ihre feurige Glut zu entfesseln. So hörte der feste Eisenkern von Venus auf, sich gegen das flüssige Gestein des äußeren Kerns zu drehen und konnte somit kein schützendes Magnetfeld mehr generieren, das die Atmosphäre von Planeten vor der kosmischen Strahlung schützt. Durch den gewaltigen Stoß, der Venus erschütterte, begann sie zudem, langsamer und langsamer im ihre eigene Achse zu rotieren. Schließlich stand sie Tausende von Jahren still, bis sie begann, sich in die andere Richtung drehte. Eine Ausnahme unter den Planeten und ein deutliches Zeichen dafür, dass sie verflucht war von der Macht, die den Planeten einst erschuf. So gab es nun keine Jahreszeiten mehr und ein Tag auf ihr dauerte 117 Erdentage und ihre Nacht war ebenso lang.
Damals sprach die weiße Macht:
»Venus ist verflucht um des Menschen willen. Doch ich kann ihn nicht preisgeben, und werde ihn neu erwachen lassen, auf der Erde, ihrem Zwillingsplaneten.«
Ein lebensfeindlicher Ort wurde Venus, eine Todeswüste, eine apokalyptische Vision und ein Ort der Qual, und jeder der gewaltigen Engel verstummte voller Entsetzen, wenn er an sie dachte.
Denn jegliches Wasser verdampfte nun in der Hitze der vulkanischen Eruptionen und jedes Leben vertrocknete zu Staub. Der Wasserdampf reicherte sich als Treibhausgas in der Atmosphäre an und die Wärmestrahlung der Sonne konnte nicht mehr entweichen, und der Dampf legte sich wie eine nasse, erstickende Decke um Venus. Dazu setzten die Vulkane der durch den Stoß aufgebrochenen Venusoberfläche Unmengen von Kohlendioxid aus dem Gestein in die Atmosphäre frei. Das zweite starke Treibhausgas, das durch keinen Ozean mehr gebunden werden konnte und in der Atmosphäre verblieb.
Unter der zunehmenden Hitze begann der Fels zu erhitzen und gab noch mehr an Kohlendioxid ab. Durch diesen doppelten Treibhauseffekt wurde es noch heißer. So verhüllten Wasserdampf und Kohlendioxid gleich einem erstickenden Mantel das Angesicht von Venus bis heute. Der leichte Wasserstoff, aus dem der Wasserdampf hauptsächlich bestand, diffundierte mit der Zeit ins All, da die Schwerkraft von Venus zu gering war, ihn auf Dauer festzuhalten.
So wurden die Temperaturen auf der Venusoberfläche mehr als vierhundert Grad höher als auf der Erde, und die schiere Masse der dichten Kohlendioxid-Atmosphäre erzeugte einen neunzig Mal höheren Luftdruck als auf ihrem Bruder, und kein Leben würde auf Venus mehr existieren können.
Dōr hatte diesen Ort in eine Hölle verwandelt.
Oh, wie wunderschön warst du, du seliger Abendstern!
Wie strahlend und leuchtend, herrlicher Morgenstern!
Garten der Götter, Oase des Lebens in der Allkälte,
Juwel der Hoffnung in der Allweite.
Würdige und Mächtige trafen sich unter deinem grünen Kleid, in der Kühle des Abends und im Glanz deines Morgens.
Deine Luft wie Äther, so rein, und wie Diamant, so klar.
Deine Früchte, sie dienten der Wonne, und deine Tiere, sie liebten den Menschen, den Auserwählten und den Gesandten des Mächtigen.
Den tiefen Frieden, den Dōr damals empfunden hatte, als der Mächtige mit den Menschen Gemeinschaft hatte, dieses Glück, das selbst die Erstgeborenen in Entzücken versetzte, dieser Friede war nicht mehr.
Nur der Name, den die Menschen dem Himmelslicht gaben, Venus, die Liebe, zeugte von jener längst entschwundenen Zeit. So wurde der flammende Planet in der Ära der Menschen ein Bild für Liebe, für Anmut und Schönheit, für Wildheit und Romantik. Doch bald ahnte niemand mehr, woher all diese Gedanken, woher all diese Gefühle stammten.
Und Venus, die Liebliche, wurde dem Menschen zum Morgenstern, der aufstrahlt nach dem Todesdunkel der Nacht, ein Zeichen der unsterblichen Hoffnung. Zugleich ward sie ihnen zum Abendstern, ein Zeichen des verborgenen Friedens, der noch aus sie wartete.
Doch Leviathan, der Verfluchte, verhöhnte sogar diese Erinnerung an fernes Glück und er betrog sie alle: So wurde Venus von den Griechen ›Lichtbringer‹ getauft, Phosphóros. Übersetzt hieß das bei den Römern Lucifer: Denn jedermann sollte gemäß seinem kranken Geist erkennen, dass das wahre Licht von Luzifer stamme, dem Fürsten der Dunkelheit. Leviathan, so nannte sich Luzifer, wenn er verborgen bleiben wollte …
Doch in Dōrs Erinnerung gab es noch etwas anderes, etwas Seltsames, das er lange nicht verstanden hatte. Denn als der Lebensbaum auf Venus über die Jahrtausende verdorrte, und der Planet schon zur Steinwüste geworden war, leuchtete noch Licht von der Flamme des Lebens in dem Baum. Und ein Mann aus dem Geschlecht der Menschen stand damals an dem verdorrenden Baum, und er hielt ein goldenes Schwert gezückt in seiner Hand und mit einem Schrei stieß er es tief hinein in das lebende Holz des Baumes.
Tränen verschleierten Dōrs Blick, während er nun aufblickte, und das kleine Raumschiff betrachtete, das den passenden Namen Genesis, Anfang, trug, und dessen Schicksal wahrlich in den Sternen lag.
Davidé hatte keine unbeschwerte Kindheit gehabt. Seine Verletzung begann mit fünf Jahren, in jener Zeit, als der dunkle Herrscher ihn zum ersten Mal in seinen Träumen besuchte.
Eine laute Stimme dröhnte in seinem Kopf, die unerbittlich und kalt immer wider dies Eine forderte:
Bete mich an, falle nieder vor mir!
Davidé ahnte damals mehr, als er verstand, dass er dieser Stimme nicht nachgeben durfte, um keinen Preis, denn sonst würde er in das Reich der Schatten sinken.
Wenn so der dunkle Herrscher ihn rief, und Davidé ihm mit einem schwachen ›Nein‹ entgegentrat, dachte er, wahnsinnig zu werden.
Die Grenzen der Realität verschoben sich, bizarre Ängste flößten ihm Furcht ein und blankes Entsetzen umgab ihn. Er dachte, zu ertrinken, und Grauen marterte sein wild klopfendes Herz. Übelkeit überfiel ihn, und er zitterte wie ein dürrer, blattloser Baum in einem Orkan.
Das waren die Nächte, doch die Tage waren ebenso schlimm: So begann es in frühester Kindheit, und vielleicht, so dachte er heute, wurde damals zum ersten Mal die Gabe in ihn hineingelegt, die ihn vorbereiten sollte auf das Kommende: Die Gabe, das Übernatürliche zu sehen.
Denn dass sein Leben zerstört werden sollte, war offensichtlich. Sein Vater war im Krieg gefallen, als er vier Jahre alt war, und seine Mutter war fortan nicht mehr fähig, ihn zu erziehen. Wenn er dann mit seinen Pflegeeltern in einsamen Gegenden unterwegs war, entdeckte er manchmal Häuser, in denen die Liebe erloschen war. Er spürte es. Bei ihrem Anblick erfasste ihn tiefe Pein, die mit einem eigenartigen Gefühl von Einsamkeit, Traurigkeit und Furcht einherging. Es war etwas durch und durch Irrationales. Seine Wahrnehmung veränderte sich – bei vollem Bewusstsein und wachem Verstand – und er meinte, in einer ›verwunschenen‹ Welt zu sein.
Einer Welt voller Dämonen, Hexen und Geister.
Er spürte das Nichtige und Böse, das Giftige und Hässliche, das aus diesen Häusern kroch, und es verwirrte seine Gefühle und beeinflusste sein Denken. Dann fragte er sich voller Bangen, ob er gerade in eine fremde Welt eintauchte, die andere nicht wahrnehmen konnten. Denn es schien so, dass sich die Wirklichkeit verzerrte. So, als gäbe es keine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, als hörten ihre Grenzen auf zu existieren, und lösten sich auf in das Nichts. Als würden sie ineinander fließen: Da waren Fetzen der Vergangenheit, die von Geisterhand erschienen, Sorgen über die Zukunft, die ihn umklammerten, und die Nichtigkeit des Augenblicks, die ihn quälte.
So stand er schutzlos vor dem Meer der Zeit, und die Ebbe der Welt entzog ihm jeden Boden, jede Standfestigkeit, und zog ihn unerbittlich hinaus auf die stürmische See seiner Zwänge und Psychosen. Diese Zustände kamen immer wieder, manchmal dauerten sie einen Tag, oft jedoch waren es nur kurze Augenblicke, in denen er das Gefühl hatte, alle Sicherheit, die er kenne, löse sich auf in Chaos. Wenn diese Momente ihn erfassten, fürchtete er, den Verstand zu verlieren.
So kämpfte er mit der Kraft eines fünfjährigen Jungen einen einsamen und aussichtslosen Kampf, den er nicht gewinnen konnte. Wahrscheinlich begann diese Schutzlosigkeit mit dem Verlust seines leiblichen Vaters, der in jenem Krieg geblieben war, den man den ›Bürgerkrieg der Sterne‹ nennt, als die Rebellion auf Mars nur mit großem militärischem Einsatz niedergeschlagen werden konnte. Vier Jahre war er damals alt. Seine Mutter war vier Jahre später einem Herzinfarkt erlegen, aber in Wirklichkeit starb sie an gebrochenem Herzen. Nach einem Jahr Kinderheim wurde er dann von Pflegeeltern adoptiert. Er hatte sie geliebt, ein älteres Ehepaar, und sie waren fast gleichzeitig vor zwanzig Jahren gestorben.
Er stand vor der klarsten Entscheidung seines Lebens:
Entweder, er brachte sich um oder er schloss sich der Bruderschaft an.
Er entschied sich für das Leben, hauptsächlich, weil er hoffte, er würde jene, die er geliebt hatte, nach dem Tod wiedersehen, später aber, weil sehr viele erstaunliche Dinge geschahen, die weit über das hinausgingen, was psychische Kräfte vermögen. Denn seit seiner Begegnung mit Dämonen, als er fünf Jahre alt war, war ihm klar, dass es auch Engel des Lichts geben musste. Diese Wesen begegneten ihm nun öfter und sie waren nicht harmlos; es waren mächtige Krieger und sie erzählten ihm, dass er auserwählt sei. Sie trainierten ihn, Gedanken zu lesen, sie gaben ihm Einblicke in die Zukunft, wenn es wichtig war, sie lehrten ihn, zu heilen. Und doch waren sie auch nur Gesandte einer weit größeren Wirklichkeit und sie führten ihn zur wahren Macht.
Denn alles, was in den heiligen Worten steht, ist wahr, dachte er nun, während er auf einem streng geheimen Gelände der Space-Forces stand, und in den Himmel starrte. Es war kalt geworden in der Wüste, und die ersten Sterne erschienen am klaren Himmel.
Besonders das Buch Genesis hatte ihn gefesselt und als späterer Kommandant erhielt er das Vorrecht, sein Schiff nach diesem alten Buch zu benennen. Als sein Interesse für Astronomie geweckt wurde und er später sogar in Kosmologie, der ›Lehre von der Welt‹, promoviert hatte, überraschte ihn der bereits am Anfang heiligen Schrift überlieferte Satz, es werde Licht, und es wurde Licht – im direkten Vergleich zum seit Jahrhunderten bestehenden Standardmodell der Wissenschaft für die Entstehung des Kosmos: Der Theorie eines Anfangs ›von Allem‹ in Form einer Explosion von Licht, der Anfangssingularität, oder salopp, dem Urknall. Es werde Licht und es wurde Licht, so könnte auch die Überschrift eines aktuellen wissenschaftlichen Aufsatzes zur Entstehung von Allem lauten.
Doch auch als Astronaut konnte Davidé seinen Schmerz nur schwer unterdrücken, und er kam immer wieder zum Vorschein. Nach seiner verlorenen Jugend befand er sich jahrelang in psychotherapeutischer Behandlung. Aber er hatte seine Sache gut gemacht und konnte sehr viel verarbeiten. Wie die meisten mit dieser Vergangenheit hatte er ein posttraumatisches Belastungssyndrom entwickelt. Doch die Jahre der Heilung seiner Vergangenheit hatten ihn viel gekostet: In diesen Jahren hatte er keine Zeit und keine Kapazität, gesunde Beziehungen zu Frauen aufzubauen.
Und nun, dachte er, sei er zu alt für eine Familie.
Und doch war sein Weg gut gewesen.
Denn für solche speziellen Missionen wie der, auf den sie ihn nun schickten, suchte man Menschen, die ungebunden waren, die bei einem nicht unwahrscheinlichen Tod nichts zu verlieren hätten. Er lächelte traurig, doch nur leicht, denn er hatte alles verloren, um alles zu gewinnen.
Er war nun sechsundvierzig, die männliche Lebenserwartung in der westlichen Hemisphäre war in den letzten Jahrzehnten auf 99 Jahre gestiegen und er war bereit, das Universum zu erobern: Er hatte schon als fünfjähriger Junge beschlossen, 120 Jahre alt zu werden!
***
Dōr wurde vorausgesandt.
Er hatte einen Auftrag zu erfüllen:
Davidé und die Genesis zu beschützen.
Denn die Mission von Davidé war strategisch für die Pläne des Himmels für dieses Millennium. Sollte Davidé scheitern, würde das Protoplasma das gesamte Sonnensystem zerstören.
Im Rahmen dieses Auftrages war es ihm erlaubt, sich den Menschen in physischer Gestalt zu zeigen und auch das nur in äußerster Not.
Warum dies so war, darüber hatte der Mächtige geschwiegen und Dōr vermochte seinen Ratschluss nicht zu ergründen.
»Erinnerst du dich, was der Mächtige uns sagte?«, riss ihn Talmon aus seinen Gedanken. Talmon war sein Zwilling, der Cherub, der mit ihm den Garten bewacht hatte. Er leuchtete siegessicher wie immer neben ihm in der Dunkelheit, und das Strahlen seiner Gestalt malte silberne Ornamente auf die dunkle Seite von Luna.
»Die Zeit ist gekommen, da verloren Geglaubtes zurückkehrt. Die Zeit ist jetzt, da die Engel wieder singen. Die Zeit ist gekommen, die Wunde zu heilen.«
»Die Wunde ist alt«, flüsterte Dōr tonlos.
»Der Verrat reichte schon immer tiefer, als wir Gottessöhne in unserer Unschuld ahnten, und ich bin es Leid, den Tod zu sehen, den Schmerz und die Trauer. Über Äonen und Zeitalter. Ich kann es nicht ertragen, die Qual der Menschen mit anzusehen. Sie waren doch immer nur der Fraß der Mächte.«
Er klang bitter und anklagend, er wusste es, und vermutlich hatte er unrecht. Ja, er musste Unrecht haben, denn er überblickte nicht das Ende, und er wusste nicht, wie alles zusammenhing. Er hoffte, er hatte Unrecht.
»Du warst schon immer etwas depressiv«, neckte ihn Talmon. »Du weißt doch, dass niemand vermag, sich uns entgegen zu stellen, wenn wir das Siegel des Mächtigen an uns tragen. Wen sollten wir also fürchten?«
»Das Siegel zu gebrauchen, ist uns nur in höchster Gefahr gestattet, Talmon. Wie kannst du nur so unbekümmert sein?«
Dōr ärgerte sich über die Naivität seines Kampfgefährten. Er hatte mehr Erfahrung, er hatte in mehr Schlachten gekämpft. Er war Talmon übergeordnet, er …
Plötzlich musste er laut lachen. Er konnte gar nicht anders. Worüber ärgerte er sich denn? Wie lächerlich war sein Zorn angesichts der Tatsache, dass ein Ereignis ungeheurer Machtentfaltung vor ihnen lag.
Der Architekt und Meisterplaner hatte Sollbruchstellen eingefügt! Er hatte sie eingefügt, um das wirkliche Ausmaß seiner Liebe, seiner Weisheit und seiner Macht fortschreitend zu enthüllen.
An solch einer Bruchstelle zwischen Raum und Zeit befanden sie sich nun. Der Erbauer der Welten hatte erlaubt, dass Dinge in Unordnung gerieten.
Mehr nicht.
Davidé konnte nicht schlafen. Er hatte bizarr geträumt – von einem Schwert, das durch die Luft wirbelt, ihn verletzte, ohne zu töten …
Unruhig stand er auf, und blickte aus dem Fenster hinaus in die Wüste, die im fahlen Licht des verblassenden Mondes vor ihm lag. Es war vier Uhr dreissig. Die Venus war bereits glänzend als Morgenstern aufgegangen und überstrahlte als weißglühender Punkt den Erdtrabanten um ein Vielfaches. Es war ein faszinierendes Schauspiel.
Bis ins 19. Jahrhundert hinein dachten viele Wissenschaftler, der Planet der Liebesgöttin Venus sei eine zweite Erde, nur heißer und tropischer. Man fragte sich in Ermangelung, dorthin zu gelangen, welche Wesen dort wohl wohnten. So wurde der Begriff ›Zwillingsplanet‹ geprägt, der in der Literatur dieser Zeit eine besondere Rolle spielte. Denn beinahe dieselbe Größe, eine ähnliche geologische Zusammensetzung, der fast identische innere Aufbau und ihr verhältnismäßig geringer Abstand zur Erde – neben dem Mond war sie mit einem Minimalabstand von 38 Millionen Kilometern der nächste Nachbar im Sonnensystem – machten eine ähnliche Temperatur doch wahrscheinlich. Und damit auch Vorkommen von flüssigem Wasser. Und damit von Leben und eine erdähnliche Atmosphäre.
Das, was vielen späteren Wissenschaftlern lange als Phantasterei galt, wurde in gewisser Weise durch Venussonden Ende des 20. Jahrhunderts in gewisser Weise bestätigt. Venus war noch vor einer Milliarden Jahren tatsächlich ein erdähnlicher Ort gewesen. Bis vor drei Milliarden Jahren hatte die junge Sonne eine dreißig Prozent geringere Strahlungsleistung als heute, so dass sich die Venus trotz ihrer größeren Nähe zur Sonne früher in der sogenannten habitablen Zone befand, in der flüssiges Wasser aufgrund der optimalen Wärmestrahlung, die die Oberfläche erreichte, möglich ist. Die Erde hingegen war damals noch außerhalb einer ausreichenden Wärmestrahlung gelegen, und hätte nach dieser Lesart eigentlich erfrieren müssen und Leben wäre unmöglich gewesen. Das dem nicht so war – dieses Rätsel beschäftigte die Wissenschaft seit Jahrhunderten.
Dann, vor etwa 700 Millionen Jahren war auf Venus, neben der immer größer werdenden Wärmestrahlung der Sonne etwas geschehen, was den Planeten in die heutige Gluthölle verwandelte: Vulkanausbrüche von planetarer Dimension hatten die Oberfläche von Venus neu geformt und solche Unmengen von Kohlendioxid aus dem Gestein gelöst und in die Atmosphäre geschleudert, das diese kippte. Es kam zu einem galoppierenden Treibhauseffekt, als der Anteil von Kohlendioxid in ihrer Atmosphäre neunzig Prozent erreichte. Warum dieser Vulkanismus so schlagartig auftrat, war bis heute nicht geklärt.
Doch eine ähnliche vulkanische Katastrophe hatte vor 230 Millionen Jahren auf der Erde zum Aussterben der Dinosaurier geführt, doch zum Glück blieben diese Magmaeruptionen regional beschränkt und seinem Heimatplaneten blieb ein Schicksal wie das von Venus erspart. Heute betrug ihre Oberflächentemperatur relativ konstante 460 Grad Celsius, bis auf einige Hochebenen, die um etwa hundert Grad kühler waren. In den tiefsten Höllenvisionen, dachte Davidé, muss es so aussehen wie auf Venus, einem Ort, an dem selbst Metall schmilzt.
Doch von hier unten sah Venus einfach fantastisch aus, ruhig und friedlich und strahlend schön. Nichts trübte ihren majestätischen Glanz, der den der Sterne überstrahlte.
War es denn ein Wunder, wenn Menschen göttliche Wesen in den Sternen erblickten? Er verspürte eine eigenartige Ruhe und einen seltsamen Frieden, und legte sich wieder schlafen. Pünktlich um sechs Uhr klingelte sein Wecker. Durch die zerteilte Nachtruhe fühlte er sich unausgeschlafen, doch er hatte einen wichtigen Termin. Denn heute sollte ihm das Ziel seiner Reise mitgeteilt werden.
***
Sara Abramowitsch stand schweißüberströmt und keuchend in der sogenannten Planetenkammer, einer Überdruckkammer, in der der Umgebungsdruck fast aller Gesteinsplaneten simuliert werden konnte.
Heute stand die Simulation von Arbeiten auf einem sehr heißen Gesteinsplaneten, mit enorm hohem Atmosphärendruck von 100 Bar und einer Oberflächentemperatur von 500 Grad Celsius auf dem Programm. Ihre Biomarker wurden ununterbrochen gemessen und sie trug einen feuerfesten und gekühlten Panzerdruckanzug, der etwa 30 Kilogramm wog. So muss sich die Hölle anfühlen, dachte sie.
Sara hatte die Aufgabe, eine Sedimentbohrung mithilfe eines Arbeitsroboters auszuführen, doch sie konnte sich nicht wirklich konzentrieren. Heute würde der Kommandant der Genesis, Davidé Pascal, seine Einsatzbefehle für die Pioniermission Projekt Eden erhalten.
Sie war erster Offizier der Genesis, flog seit neun Jahren mit Davidé, und wusste mehr über seine Ängste als die meisten, denn auf langen Raumflügen musste man sich kennen und vertrauen lernen. Seine Angst vor der Dunkelheit, seine Angst vor Stillstand und Leere. Im physikalischen wie im übertragenen Sinn. Und dennoch wusste sie, dass Davidé die beste Wahl für diese außergewöhnliche Mission war, denn er hatte so viele Krisen in seinem Leben überstanden wie nur wenige andere Menschen, die sie kannte. Das hatte eine Resilienz, eine Widerstandskraft in schlimmsten Situationen in ihm hervorgerufen, die selten war.
Als sie sich vor zehn Jahren das erste Mal begegnet waren, und sie ihn als junge Astronautin – die ihn bewunderte, denn er galt als Held des zweiten Marskrieges – fragte, warum er denn nie aufgäbe, grinste er nur entschuldigend, und antwortete mit einem albernen Zitat von Friedrich Nietzsche: Was mich nicht umbringt, macht mich stärker. Sie fand das lächerlich für einen 35-jährigen. Es erinnerte sie zu stark an primitives Wunschdenken, an die naive Vorstellung, wenn man nur will, kann man alles erreichen, wenn man sich nur hart macht, kann man allem widerstehen. Aber sie war eine Frau, vielleicht konnte sie Männer einfach nicht verstehen.
Und sie war Jüdin, und das wiederum war vermutlich ein Grund, warum sie es bis in die Space Force geschafft hatte. Denn Juden mit militärischer Ausbildung galten – abgesehen davon, dass man sie nicht mochte – als widerstandsfähig, zäh und höchst innovativ. Das bewies die Existenz des Staates Israel, der allen Angriffen meist arabischer Nationen, sie von der Landkarte zu tilgen, standgehalten hatte. Selbst die ehemalige UNO, die über Jahrhunderte lang zu etwa 35 Prozent aus islamischen Regionen und den entsprechend fanatisierten Politikern bestand, hatte es trotz ihres Antisemitismus nicht vermocht, die regionale Hegemonialstellung Israels im Nahen Osten zu demontieren. In diesem Sinne also hatte Davidé mit seinem Zitat vielleicht doch recht.
Sie grinste in ihren Helm.
Ihre Trainerin funkte sie an. »Sara, erhöhen Sie jetzt den Innendruck Ihres Anzuges, um …«
Den Rest bekam sie nicht mehr mit, denn plötzliche Panik überfiel sie, und sie bekam keine Luft. Ihr wurde schwindelig, vielleicht gehörte das ja zum Trainingsprogramm … wenn sie nun etwas falsch machte? Sie musste durchhalten. Vielleicht war es eine Prüfung und man hatte ihr eine Droge verabreicht, und sie musste trotzdem ruhig bleiben? Doch Dr. Brendel, die Versuchsleiterin, saß ruhig auf einem Stuhl vor ihrer Kammer und las …
Sara hatte solch einen Flashback das letzte Mal vor zehn Jahren gehabt und ihre Therapie war schon lange vorbei. Sie durfte keine Schwäche zeigen, doch die Bilder waren zu stark. Die Erinnerung überrollte sie wie eine Meereswoge, die sie von den Beinen riss und hilflos am Stand liegen ließ.
Sie war wieder ein elfjähiges Mädchen und die Nacht war mondhell …
»Du kannst doch jetzt nicht einfach gehen, deine Tochter braucht dich. Und ich schließlich auch!«, schleuderte Papa mit brüchiger Stimme ihrer Mutter entgegen.
Sara hatte geschlafen, als ihre Eltern anfingen, sich zu streiten. Schon wieder, dachte sie, nachdem sie durch den lauten Wortwechsel aufgewacht war. Und da sie sowieso nicht mehr einschlafen konnte, war sie hinunter geschlichen, saß zusammen gekauert auf der kalten Holztreppe und hörte, wie über ihre Kindheit verhandelt wurde.
»Josef, ich liebe dich nicht mehr, versteh das bitte«, sagte Mutter gerade. »Und die Sache mit Mike, das hat sich halt so ergeben. Wo die Liebe hinfällt, du müsstest das eigentlich wissen!«, fuhr sie anklagend fort, doch es klang eher so, als wolle sie ihr Gewissen beruhigen. ›Typisch‹, fand Sara, die ihren Papa sehr liebte.
Mutter liebte sie natürlich auch, aber die war immer so streng, wollte immer, dass sie alles perfekt machte. Bei Papa konnte sie so sein, wie sie war, dachte sie gerade, als er Mutter eine schallende Ohrfeige gab.
»Josef, du besoffenes Schwein, anders kannst du dir wohl nicht helfen«, schrie sie ihm wütend und voller Verachtung entgegen. »Mike schlägt mich nie! Er hat es nicht nötig, er ist ein Mann! Und morgen«, fügte sie triumphierend hinzu, »verlasse ich dich endgültig!«
Kurz darauf hörte Sara die schwere Haustür ins Schloss fallen. Gespenstische Ruhe erfüllte das Haus.
Dann hörte sie, wie ihr Vater laut schluchzend zusammenbrach, und sich schwer auf die selbstgebaute Holzbank in der Küche fallen ließ. Still und ohne Tränen weinte Sara mit ihm, bis sie wieder einschlief.
Doch sie träumte schlecht. Ihr war, als lege sich etwas Dunkles, Schweres auf ihre Brust, und sie konnte kaum atmen. Nach Luft ringend wachte sie auf, schweiß überströmt.
Panische Angst ergriff sie, und sie wimmerte leise, als sie sich schutzsuchend und so tief es ging, unter ihre Bettdecke kuschelte. Aber da konnte sie noch weniger atmen, und so zog sie die Decke wieder vom Gesicht. Der volle Mond schien hell und silbern durch die Gardinen, geheimnisvolle Schatten werfend, und sie sah, dass die große Uhr über ihrer Zimmertür auf die drei zuging.
Es war so ruhig.
Endlich raffte sie all ihren Mut zusammen, stieg aus dem Bett und tapste so schnell sie konnte aus ihrem Zimmer, die steilen Holzstufen einen Stock höher, zum Schlafzimmer der Eltern. Kalt war das Holz, und es knarrte und stöhnte unter ihren nackten Füßen. Als könne es die Last der Bewohner nicht länger ertragen. Atemlos klopfte sie an der großen weißen Tür.
Kein Laut. Leise wisperte sie.
»Papa, Papa! Mama, Papa! Ich hab solche Angst!«
Als sich nichts rührte, drückte sie die Klinke herunter.
Dunkelheit und Stille empfing sie. Grabesstille.
Wie auf einem Friedhof, fuhr es ihr erschauernd durch den Kopf. Ein nicht fassbares Grauen schüttelte sie, während sie in panischer Hast nach dem Lichtschalter tastete. Mit ihren zitternden Händen fand sie nur den Schalter für die kleine Stehlampe, die links vom Türrahmen stand, und so erhellte spärliches Licht den Raum.
Das Doppelbett in der linken Ecke war leer!
Müde, und mit angstgeweiteten Augen irrte ihr Blick durch das große Zimmer. Schließlich, in der Mitte des Raumes, blieb er an etwas Dunklem, Langen hängen. Sie nahm nur ein Zucken wahr, ein heiseres Röcheln. Dann blickte sie in leblose Augen, und in ihnen erkannte sie den Abgrund der Hölle …
Sara war schweißüberströmt und atmete wie eine Ertrinkende in ihren Helm. Es waren vielleicht zwei Minuten vergangen. Sie schielte auf Doktor Brendel. Wenn sie ihre vitalen Messwerte überprüfte, während Sara in der Simulation die ersten Schritte auf einem fremden Planeten unternahm, der einen hohen atmosphärischen Druck und eine enorme Hitze besaß, könnte sie für untauglich erklärt werden. Denn dieses Training war zugleich ein Test und Sara wusste das.
Doch Doktor Brendel schien nichts bemerkt zu haben.
Sara zwang sich, ruhig zu atmen, ruhig und tief, in einem bestimmten Rhythmus, das wusste sie noch aus ihrer Traumatherapie. Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag. Die ungewöhnlichen Vitalwerte konnte sie durch die hohe körperliche Anstrengung erklären und die inkorrekte Umsetzung der Anweisung durch einen Fehler der Funkverbindung.
Bei der Einstellung in die Space Force war ihr mitgeteilt worden, sie sei stabil, die Ärzte hatten das in vielen Tests immer wieder bestätigt. Sie hatte militärische Missionen zum Mars absolviert und es war ihr wie ein Spaziergang erschienen. Warum hatte sie ausgerechnet jetzt einen Rückfall in ihre Vergangenheit? Sie spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Wut über sich selbst, Wut über ihre Schwäche. Sie durfte jetzt nicht versagen! Nicht, während die Menschheit an einer neuen Schwelle stand.
Einer Grenze, die sie überschreiten würde, wie alle anderen Grenzen vor ihr, koste es, was es wolle.