Prolog

 

 

"Du bist mein Prophet", flüsterte die Stimme beinahe zärtlich, und klang doch wie dröhnender Donner in hohem Gebirge oder wie ein brüllender Orkan, wenn er die mächtigen Zedern des Libanon zerbricht, als wären sie morsches Holz …

»Du bist ein Pfeil, der die Dunkelheit zerschneidet und durch diesen Riss wird Licht auf die Geschichte vieler Generationen und Zeitalter fallen«, rief die Stimme leidenschaftlich, und nur langsam verhallte ihr Echo in den tiefen Tälern der Berge.

Der alte Mann drehte sich zitternd um, doch in der Dämmerung konnte er niemanden sehen und seine Augen waren schwach geworden.

Aber dann erinnerte er sich: Er hatte die Stimme schon einmal gehört, und langsam sank er auf seine Knie.

 

Dann öffnete er die Arme in einer kindlichen Geste weit gen Himmel. So verharrte er reglos und mit klopfendem Herzen, und lauschte angestrengt in die majestätische Stille hinein …

 

Minuten vergingen.

Stunden.

 

Er wagte nicht, seinen Mund aufzutun oder auch nur zu Flüstern, denn die Hand Adonajs lag drückend auf ihm, und das Gewicht der Herrlichkeit Schaddajs ruhte wie ein königlicher und viel zu schwerer Mantel auf seinen bebenden Schultern:

Tief sog er die Gegenwart des Himmels ein und der Kuss der ewigen Umarmung ließ sein Herz erschauern. Aber mitten in diese überirdische Seligkeit bohrte sich langsam und unerbittlich wie ein schmerzhaftes Lied, wie ein scharfer Dolch, die abgrundtiefe Verzweiflung über den Verrat an dem Einen, der sie schon immer innig geliebt hatte.

 

Als Prophet und als Priester Israels fühlte er in diesem heiligen Moment die volle Wucht des Schmerzes über die Zurückweisung Jahwes, und diese Qual im Herzen seines Gottes führte zu einem tiefen Verstehen der unheilbaren Wunde seines Volkes:

Es war nichts weniger als die völlige Zerschlagung der Herrlichkeit Israels durch ihre eigene Gottlosigkeit, ihre Anmaßung und ihren schrecklichen Hochmut.

Denn die Propheten hatten gerufen, sie hatten gefleht, sie hatten beschworen, sie hatten umworben. Bis das Gericht unausweichlich war.

 

So jubelte sein Geist, aber sein Herz war zerrissen und seine Seele tief bekümmert, ein Zustand, den er sein Leben lang gekannt hatte. Er kannte ihn Jahrzehnte, seit dem Tag, ja, der Stunde, als die Stimme des Heiligen ihn traf und sein Geist explodierte, um hell und gleißend zu strahlen, die Dunkelheit zerschneidend, so wie das Licht der funkelnden Sterne an einem klaren Wüstenhimmel …

 

 

 

 

Teil I

Nebukadnezar II

König von Babylon 605-562 BC

 

 

(...) Die Zikkurat von Babylon, deren Stelle Nabupolassar, der König von Babylon, mein Vater und Erzeuger … gereinigt und auf der Sohle der Grundgrube ihr Fundament errichtet hatte, ihre vier Wände außen herum aus Asphalt und gebrannten Ziegeln 30 Ellen hoch errichtet, ihr [eigentliches] Haupt [aber] nicht erhöht hatte: E-temen-an-ki zu erhöhen, ihr Haupt mit dem Himmel wetteifern zu lassen, legte ich Hand an … Einen reinen Hochtem[pel], eine [wohlbehütete] Götterkamm[er] wie in früheren Tagen errichtete ich für Marduk, meine[n] Herrn, auf seinem Oberbau kunstvoll (…)

Bauinschrift von Nebukadnezar II, Keilschrifttext Etemenanki/Turm zu Babel, 6. Jhd. BC

 

 

 

I

 

 

 

Jerusalem, im Spätsommer 605 BC

 

Danijel ben Jehuda ruderte in Todesangst mit den Armen um sich, während er erwachte. Mit blankem Entsetzen hatte er zugesehen, wie die Glut des dunklen Feuers das Allerheiligste des Tempels zum Schmelzen brachte und ein Strom flüssigen Goldes den träumenden Zuschauer ertränkte. Kurz bevor er im Gold erstickte, war er aufgewacht.

Schweißnass und laut keuchend lag er im stickigen Obergemach und hörte aus Gesprächsfetzen deutlich die Stimme seines Vaters heraus, der erregt auf seine Mutter einredete und ihr schilderte, was ihm berichtet worden war.

»Vor einer Stunde haben sie das Quelltor vom Westen her durchbrochen … ein Rammbock, gewaltiger als alles, was ich für möglich gehalten habe, zerbrach nicht nur das Tor, sondern bohrte sich in dutzende unserer Soldaten … waren fast nur noch Haut und Knochen, ein starker Wind hätte sie umblasen können … drei Monate Belagerung, drei Monate schimmeliges Brot und bitteres Wasser, da erobern diese Heiden dann unsere heilige Stadt … «

»König Jojakim wird uns zur Hilfe eilen! Seine Elitetruppen sind doch in der Stadt und der kleinen Vorhut der babylonischen Armee weit überlegen …«, erwiderte kühn seine Mutter.

Sein Vater lachte bitter. Es war ein heiseres, verzweifeltes Lachen, und Danijel erschauderte.

»König Jojakim, meine Liebste, hat uns verkauft! Im Tausch gegen eine Belagerung und Vernichtung Jerusalajims gewährt er den Söldnern des neuen babylonischen Königs freie Hand in der Stadt. Es heißt, sie wollen einige aus der Oberschicht von Juda deportieren …!«

In diesem Augenblick hörte Danijel dumpfe Schläge vom mächtigen Hoftor her; er vernahm, wie fremde, dunkle Worte durch die Nacht hallten, und Angst ergriff sein Herz und eine Faust zerquetschte seine Nieren.

»Im Namen des Herren aller Herren und des Königs aller Könige, im Namen Nebukadnezars, des Großkönigs von Babylon, öffnet das Tor!«

Eine befehlsgewohnte Stimmen war es, grausam und kalt. Danijel spähte durch die Fensteröffnung und sah, wie ein Dienstbote den Riegel aus Eisen umlegte, der den Eingang zum Anwesen seines Vaters, eines Erbfürsten von Jehuda, verschloss. Schon sprangen die wuchtigen Torflügel auf und eine Abteilung babylonischer Soldaten galoppierte zum Haupthaus und sprang von den Pferden. Die Tür wurde aufgerissen.

»Auf Befehl des Königs sind alle Fürstenhäuser Judas, die sich der Güte des Königs der Könige, Nebukadnezar, widersetzen und die Stadt verteidigt haben, obwohl ein Erlass die kampflose Aufgabe der Stadt forderte, zu töten.«

 

Mit schnellen Schritten war der Offizier bei seinem Vater, und stieß ihm das kurze Schwert bis zum Heft in den Bauch.

Bleich und mit verständnislosem Gesicht sank sein Vater zu Boden. Die anderen Soldaten schändeten seine Mutter. Es dauerte nur wenige Augenblicke.

Danijel hörte seine geliebte Mutter erstickt schreien und er fühlte den Himmel weinen. Anschließend schnitten sie ihr die Kehle durch und ließen sie liegen wie ein unreines Opfertier.

 

Eine brennende Fackel wurde durch die Tür geworfen, obwohl doch noch seine wunderschöne Schwester und das Gesinde darin waren.

Danijel fiel hart auf die Knie, als er diesem unbarmherzigen Tod ins Gesicht blickte, und er spürte nicht die Glut des Feuers noch dessen gespenstischen Hunger, der das Haus voller Gier auffraß …

 

Durch den Rauch sah er schemenhaft, wie ein Offizier auf ihn deutete.

Er wurde von groben Händen gepackt und aus dem Haus geschleift.

Dann versank die Welt in lichtlosem Dunkel.

 

***

 

Als Danijel zu sich kam, befand er sich festgezurrt auf dem Rücken eines Kamels. Die Sonne brannte sengend auf ihn herab, und nur die Befehle der Soldaten, das Stöhnen der Gefangenen und das Schnaufen der Kamele drang in sein lückenhaftes Bewusstsein.

Als die Erinnerung heranbrandete wie flutendes Wasser, schloss er die Augen und versuchte mit aller Kraft, ins Dunkel zurück zu gleiten, denn er spürte den namenlosen Schrecken seiner nahenden Gedanken. Doch es gelang ihm nicht. Er stöhnte laut auf vor Schmerz, als ihm bewusst wurde, dass seine ganze Familie ausgelöscht war und er selbst ein Gefangener war.

 

Die Stunden, die er wach war, quälten ihn unaufhörlich, doch in dumpfem Brennen und unberührt von jeder menschlichen Qual lief die Sonne ihren schrecklichen Lauf, bis sich die Nacht kalt auf die Gemarterten legte. Danijel fror entsetzlich, doch selbst das spürte er kaum. Irgendwann dämmerte es, und sie wurden abgeschnürt. Sie erhielten etwas brackiges Wasser.

 

Tag und Nacht wechselten sich nun ab mit ihren Grausamkeiten, und das Einzige, was diesen Rhythmus unterbrach, waren die Halluzinationen, die ihm in regelmäßigen Abständen eine andere Welt vorgaukelten.

Eines Tages wurde Danijel unfreiwillig Zeuge eines Gesprächs zwischen einem Offizier und seinem Untergebenen: Der Offizier erklärte, es seien zu viel Kriegsgefangene auf diesem Zug. Der König wolle nicht mehr als 700 von ihnen in Babylon haben.

»700 ist eine heilige Zahl.« Er lachte trocken.

»Den Rest lassen wir in der Wüste verdursten. Aber so, dass es nicht zur Panik kommt. Wir geben ihnen nichts mehr zu trinken, und sie werden einzeln und aufgrund natürlicher Entkräftung sterben.«

Zum Unteroffizier gewandt, sagte er:

»Sorge dafür, dass nur die Stärksten durchkommen. Und halte diesen Befehl vor den einfachen Soldaten geheim.«

Ein schriller Trompetenstoß erscholl, und eine Stimme verkündete das Ziel der Reise: Die Gefangenen hätten die Ehre, Teil des babylonischen Weltreiches zu werden.

»Denn der König braucht den Verstand und die Intelligenz selbst von euch! Von euch Juden heißt es ja, ihr seid so schlau. In einem Monat werden wir Babylon erreichen und ihr werdet vorbereitet für den Dienst am Hof sowie geschult in der Verwaltung des Reiches. Wenn ihr klug seid und euren Ausbildern gehorcht, werdet ihr am Leben bleiben.«

Die Soldaten lachten dröhnend und schlugen ihre Gefangenen derb in die Seite.

 

Die nächsten Tage beobachtete Danijel, wie täglich zwanzig, dreißig Gefangene von den Kamelen gebunden wurden und tot in den glühenden Sand der Wüste fielen. Die übrigen Gefangenen sahen mit stierem Blick zu. Er selbst war zu schwach, um etwas zu beten – außer dem rituellen jüdischen Totengebet, dem Kaddisch, wenn wieder einmal dieses dumpfe Geräusch eines aufschlagenden Körpers die monotone Geräuschkulisse der Karawane zerriss. Das Einzige, was er hatte, war Zeit: Zeit, sich auf sein Schicksal, wie es auch immer aussehen mochte, vorzubereiten, und Zeit, mit seinem Gott zu rechten, der dies alles zugelassen hatte. Heute hatte er noch keinen Tropfen Wasser erhalten, und es war schon Mittag. War er nun an der Reihe, abgebunden zu werden?

›Mein Gott‹, schrie er still und in rasendem Schmerz:

›Warum hast du dies zugelassen? Meine Familie ist tot, und mir trachten sie nach dem Leben. Habe ich nicht alles für dich getan? Habe ich nicht die heiligen Gebote gehalten von Kindesbeinen an?‹

Ihm kamen die Worte König Davids in den Sinn.

›Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Fern von meiner Rettung sind die Worte meines Gestöhns. Meine Kraft ist vertrocknet wie gebrannter Ton, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen; und in den Staub des Todes legtest du mich …‹

Der Himmel war weiterhin wie Erz, und die Sonne brannte unbarmherzig auf ihn nieder, und der Geruch des Todes wehte weiterhin durch ihren Zug.

Und doch – und doch unterbrach der Wind sein Flüstern.

›Fürchte dich nicht, Geliebter‹, wisperte es von Ferne, ›ich beginne ein Werk in dir, das alle Zeitalter der Menschen beeinflussen wird‹.

 

Wurde er wahnsinnig durch Wassermangel, durch den Schmerz?

Oder war es lediglich das Wehen des heulenden Windes durch hohe und grausame Felszacken hindurch?War es womöglich sein versteckter Hochmut, ein Dünkel, bedeutsam zu erscheinen angesichts des Todes und der Nichtigkeit?

Aber trotzdem war da diese Erschütterung in seinem Geist, die er nicht ignorieren konnte, ein sanftes Glühen seines Herzens, das er wahrnahm, sogar in diesem halbtoten Zustand.

Plötzlich benetzte kühles Wasser seine aufgesprungenen Lippen, und köstliches Nass rann seine ausgetrocknete Kehle herab. Mitleidig lächelte der Soldat ihn an.

 

Es war ein Lächeln, das er nie mehr vergessen würde ...