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Und der Diener des Propheten stand früh auf, und trat hinaus. Da lag ein mächtiges Kriegsheer um die Stadt, mit Rossen und vielen Streitwagen. Sein Diener schrie: Oh, mein Herr! Was sollen wir tun? Er erwiderte nur: Was fürchtest du dich? Sind nicht die, die mit uns sind mehr, als die, die bei jenen sind?

Und er rief zum Himmel: Eljon, öffne seine Augen, dass er sieht!

Da wurden ihm die Augen geöffnet, und er sah:

Da war der Berg voll feuriger Rosse und Wagen um sie her.

 

- Das vergessene Buch - 

    II. Könige 6,15-17

 

 

Prolog

Die große Leere, vor 2.000 Jahren

 

 

Als der Fürst Gottes in das flammende Meer blickte, das den Planeten umgab, ihn bekleidete wie ein blutgetränktes Gewand, packte ihn blankes Entsetzen. Aber nach kurzem inneren Kampf schloss er die Augen, umfasste Ruach, sein Schwert fester, und durchschritt dessen feurige Atmosphäre. Rauch benebelte seine Sinne, Feuer verbrannte sein Herz, und Vergessen hüllte ihn ein.

 

Doch in seinem Geist erblickte er die Gipfel der Erde, deren ewiges Eis wie Diamanten im Morgenlicht funkelt; auch schaute er die leuchtend grünen Täler, deren schweigende Wälder den Schmerz der Menschen umarmen …

 

»Nun werde ich leben!«, flüsterte er mit letzter Kraft.

 

Während er benommen seine Augen öffnete, erblickte er eine schier endlose Fläche riesiger Sandberge. Spitze Felszacken erhoben sich drohend am flimmernden Horizont, und ihn schwindelte vor Entsetzten:

Gefängnis der gefallenen Geister, so wurde dieser Ort schon seit Urzeiten genannt. Er blinzelte, und schüttelte seinen Kopf, um sich Mut zu machen, und vielleicht, um sich zu vergewissern, wie sich Leben anfühlt. Der Turm aus porösem Fels, auf dem er sich befand, war jedenfalls hoch genug, um nach ihm Ausschau zu halten, der da kommen sollte.

 

Nur mit größtem Widerwillen sah er sich um.

Eine glühende Sonne brütete über der Oberfläche aus rissigem Granit; heißer, träger Wind bedeckte ihn mit einer feinen Staubschicht. Diese Wüste war öde und leer. Ihn schauderte.

  Leerer noch als die wirren Visionen, die ihn in letzter Zeit geplagt hatten. Aber nicht die Abwesenheit des Lebens war das Grauenhafte, sondern die Anwesenheit des Todes. Denn der süßliche Gestank verwesenden Fleisches kroch aus der Ebene herauf und machte jeden Atemzug zu einer quälenden Überwindung.

 

Er spürte, wie ihn etwas Geisterhaftes belauerte, er fühlte sich gefangen wie eine Fliege in einem kunstvoll gesponnenen Netz. Nur, er sah die Spinne nicht.

Und doch war ein Teil seines Wesens fasziniert:

Das also ist das Zauberwerk des Widersachers, dachte er dumpf, bis ihn rasende Wut ergriff:

Warum nur dieser verfluchte Planet? Sollte er elend zu Grunde gehen, wie alle vor ihm, die hierher gekommen waren?

 

Urplötzlich zerriss ein Schrei die Stille, so dass er heftig zusammenzuckte. Ein Krächzen, dicht über seinem Kopf. Ein dunkler Schatten glitt aus dem Nichts über ihn hinweg, nur um mit heiserem Gelächter am weiten Horizont zu verschwinden. Ein Gefallener, ein Nephil.

Als wäre er aus einem düsteren Traum erwacht, wusste Dor wieder, warum er hier war, und wer ihn gesandt hatte. Triumphierend blickte er sich um, und der Hass über seinen Feind verlieh ihm neue Kraft. Sein Wille bäumte sich auf, und er brüllte in rasendem Zorn und ohnmächtigem Schmerz.

Tausendfach hallte dieser Schrei von den fernen Bergen zurück, ein gewaltiges Echo, und die einzig mögliche Antwort auf eine tödliche Herausforderung.

 

Wie sehr sehnte er sich jetzt nach seiner Heimat! Seligkeit durchströmte ihn, als er sich daran erinnerte, und er trank vom Jubel des Geistes wie von einer sprudelnden Quelle, und die mächtigen Worte erklangen tosend in den lichten Hallen seiner Seele:

 

Dor, Geliebter!

Du bist gesandt an den Ort des Vergessens.

Durchbrich das Tor des Todes, und Leben ist dein Lohn!

Alleine sende ich dich, vereint kehrst du wieder.

Warte dort auf den Sterblichen, den ich erwählt habe!

Warte! Verzage nicht, sei kühn, sei stark, bis aufstrahlt der

Morgenstern, leuchtend in den Tiefen der Nacht!

 

Aber dann überlegte er: Ich soll auf den Sohn des abtrünnigen Geschlechts warten? Jeder in den himmlischen Welten weiß doch, wie schwach diese Geschöpfe sind! Wie sollte ausgerechnet ein Sterblicher in dieser Hölle überleben können, wenn schon ich, ein Mächtiger in Raum und Zeit, bedrängt werde?

Eljon ist zu erhaben. Zu naiv. Ich werde ihn aufklären müssen: Da sendet er seinen höchsten Feldherrn, um eines der geringsten Geschöpfe zu retten!

Sie hatten es sich doch selbst gewählt! Niemand war grundlos hier, jeder der Geächteten verdiente den Tod!

 

Doch ungeachtet dieser kalten Gedanken verharrte Dor, Fürst der weißen Adler, für Stunden in der trägen Glut, und blickte unverwandt in die Leere, bis der weite Horizont zu einem Meer aus Tränen verschwamm. Langsam wurden die Schatten der steinernen Türme länger, um bald darauf bizarre Muster auf den rotglühenden Wüstenboden zu werfen.

Mit Entsetzten nahm er wahr, wie Betäubung ihn beschlich. Todesangst packte ihn, und er fühlte sich so unendlich müde. Einem weiteren Kampf war er nicht gewachsen.

 

Endlich!

Nur ein kleiner Fleck jenseits der schmalen Linie des Horizontes. Dort, wo Himmel und Erde im Dunst verschwammen. Aber es genügte.

Der Schatten war weit entfernt, vielleicht fünfzig Meilen, doch es war ein Sterblicher. Minuten wurden zu Stunden, denn er humpelte, und kam nur langsam voran. Es war eine zerlumpte Gestalt, ausgezehrt und dürr, ein Gebannter.

Abergläubische Furcht befiel Dor.

 

Einer derer, die sich des ewigen Todes schuldig gemacht hatten!

 

Doch was für eine elende, was für eine geschundene Gestalt! Langsam wankte sie vorwärts. Zögernd setzte er einen Fuß vor den anderen, um nicht in den Bergen aus Sand zu versinken, was seinen sicheren Tod bedeutet hätte. Wie ein Schilfrohr im Sturm, der mörderischen Wut seiner Peiniger schutzlos ausgeliefert. Hautfetzen hingen von seinem Gesicht. Lippen, die nicht mehr als solche bezeichnet werden konnten. Blutige Linien im Gesicht.

Mitleid regte sich in ihm.

Er sah auf die Schwärme von Geiern, von Nephilim, die hoch über der einsamen Gestalt kreisten, und wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie niederstießen, um das tote Fleisch zu zerreißen.

Trotzdem – er musste einen Ausruf des Erstaunens unterdrücken - eine geheimnisvolle Kraft schien von dem Adamssohn auszugehen, denn sie wagten sich nicht näher heran; das war ungewöhnlich, denn die Verbannten stellten die Hauptnahrung dieser Kreaturen dar.

 

Ohne das er es verhindern konnte, drängten sich Bilder in sein Bewusstsein. Erinnerungen an eine zurückliegende Epoche.

Dor hasste die Nephilim aus tiefstem Herzen. Dass sie und er einst den gleichen Ursprung besaßen, vermochte er nicht zu begreifen. Einst waren sie mächtige Engel, gewaltige Wesen, nur untertan dem Herrn der Mächte, und sie waren seine Brüder.

Dann kam die große Finsternis; der lange und schreckliche Bruderkrieg, der die Zeiten überdauerte, und an dessen Ende die Welten für immer verändert waren.

Davor – Seligkeit.

Doch nur flüchtige Ahnungen davon durchbrachen manchmal die Zeit, wie die Sonne, wenn sie den Nebel zerreißt.

Das waren seine schönsten Erinnerungen.

Nach 3.000 Jahren hatte die Armee des Lichts den Sieg errungen, und der Feind wurde hinabgeworfen in das Herz der Dunkelheit.

 

Aber es war ein bitter erkämpfter Sieg gewesen, und seit dieser Zeit, dem Beginn der adamitischen Epoche, kämpften Dor und seine Streitmächte um die Sicherung des Reiches. Denn obwohl der Feind empfindlich getroffen war, vernichtet war er nicht. Immer wieder hatte er sich erhoben, und jedes Mal war er zurückgeschlagen worden. Doch in letzter Zeit waren die Angriffe anders geworden.

Exakter, und – tödlicher.

Und so wurde in den Winkeln des Reiches von einer tödlichen Bedrohung geflüstert, die sich erhob – und von einem Ereignis, das die Fundamente von Allem für immer verändern sollte.

Um was es sich dabei handeln sollte, wusste er nicht. Doch die Leute redeten viel, wenn die Zeiten finsterer wurden. Ja, je dunkler die Nacht, desto verworrener das Gerede. Es war weise, nicht auf alles zu hören, sagte er sich immer, wenn ihn diese Gedanken beschlichen. Aber nicht zuletzt dieser Angelegenheit wegen, die nur Unruhe in die Herzen vieler säte, war er hier.

 

Der Adamit war jetzt nahe genug für seine Augen, und er sah das Blut, das hinter ihm auf den Sand sickerte.

Fasziniert starrte er darauf. Langsam, als wehre es sich dagegen, den Mann zu verlassen. Träge in dieser Hitze, aber stetig. So rann es auf den glühenden Sand, aus unzähligen Wunden; und zerklumpte, als es sich mit ihm verband, und teilte sich auf in viele kleine Rinnsale, so dass es aussah, als flösse ein winziger Strom durch die Wüste, der mit der roten Sonne zu konkurrieren schien. Ein blutroter Bach, der lebendig war, und der doch ahnen ließ, dass ein Mensch nicht lange überleben konnte in dieser feindlichen Welt.

Lange und nachdenklich blickte der Adler auf die klebrige Spur, und Barmherzigkeit erfüllte ihn. Denn dieses Blut schien direkt in sein Herz zu tropfen, und mit einem plötzlichen Schrei ohnmächtiger Wut schoss er in die Höhe, und tötete Dutzende Geier mit seinen Klauen, und Hunderte mit den gewaltigen Schlägen seiner Schwingen.

Doch es mussten wohl Tausende und Abertausende sein, wie Schwärme von Heuschrecken hatten sie bald einen großen Teil des Himmels verfinstert, und er wusste, dass es aussichtslos war. So glitt er in weitem Bogen zurück, und betrachtete den Menschensohn noch eingehender als zuvor:

Kräftig musste er einst gewesen sein, und etwa 1,80 Meter groß. Eher noch größer, denn er ging sehr gekrümmt. Das schwarze, lockige Haar war blutverkrustet.

Er trug nur Lumpen am Leib. Auch die Füße waren in dieses grobe Tuch gewickelt, doch hier und dort fehlten Stücke, wie mit roher Gewalt herausgerissen; und da, wo man bloßes Fleisch erwartete, sah er getrocknetes Blut. In der rechten Hand hielt der Mann den einfachen Stab eines Hirten. Blut rann über diesen auf den Boden; seine Hände mussten ebenfalls blutig sein.

Auf dieses Stück Holz stützte er sich bei jedem Schritt, und diese Krücke war das Einzige, was ihn an einem raschen Tod hinderte.

 

Warum bin ich hier, fragte er sich erneut.

Warum hatte Eljon ihn auf diesen sterbenden Planeten gesandt, um einem halbtoten Menschen beim Sterben zusehen zu müssen?

Wäre es nicht sinnvoller, zu kämpfen, die Pläne des Feindes zu vereiteln, die Finsternis zurück zu drängen? Sie hatten nicht mehr viel Zeit!

Doch sofort tadelte er sich für diese Gedanken. Stolz war überall gefährlich, hier konnte er tödlich sein. Und überhaupt – ob er seine Titel wirklich verdiente, wusste er nicht genau, denn meist war sein Leben nicht durch eigene Kraft gerettet worden.

Entscheidend war, dass er die große Schlacht überlebt hatte, und auf wessen Seite, und dies war mehr als genug.

Weil er so viel Totes gesehen hatte, wusste er auch, wie stark das Lebende war. Dies hatte er erwählt – unfassbare Schmerzen hatte er dafür auf sich genommen; mit der ganzen Kraft seines Wesens hatte er darum gerungen, um die ›Krone des Lebens‹.

Und angesichts der tiefen Einsamkeit, die ihn jetzt umgab, erneuerte er noch einmal den Bund mit Eljon: Wenn er sterben würde, gut, dann würde er sterben.

Für das Reich, für die Auserwählten!

Und diese Hingabe öffnete seinen Blick für das Eigentliche in diesem Mann. Auch wenn dessen Hülle verfiel. Das wirkliche Leben, das Leben dahinter, versuchte er, zu beschützen. Und in diesem einzigartigen Augenblick erkannte er alles deutlicher als je zuvor. Er war nicht nur hier, um die Pläne des Feindes zu erkunden, er war nicht hier, um das Reich zu sichern – er war ein Bote des Lebens selbst!

Heller Jubel erfüllte ihn, als er das begriff.

Doch warum nur erinnerte er sich daran, wer er war, wenn er diesen Mann betrachtete?

Dieser ungewöhnliche Gedanke beschäftigte ihn, als der Mensch plötzlich stehen blieb, und seinen Kopf hob, was ihn sichtliche Kraft kostete. Er hatte ihn bemerkt, denn er blickte in seine Richtung.

Als hätte ihn ein Blitz getroffen, taumelte Dor zurück.

Feuer verzehrte seine Seele, ein rasendes, alles verbrennendes Feuer. Der Funke sprang über, auf seinen Geist, bis er die Flamme nicht mehr ertrug.

Um einer Ohnmacht zu entgehen, wandte er seine Augen ab.

 

Denn etwas unsagbar Großes verbarg sich in diesem Blick, der ihm mit stiller Autorität gebot, ihn erneut anzublicken. Und mit welcher seltsamen Mischung aus Freude und Schmerz der Mann ihn jetzt ansah! Es war Dor, als blicke er hinter den Vorhang seiner Seele, ja, als hätte er ihn schon immer gekannt. Das war nicht schlimm; vielmehr löste es eine unerklärliche und freudige Erregung in ihm aus.

Was aber das Seltsamste war – da war keinerlei Überraschung in diesen Augen, es schien fast, als hätte der Mann ihn – erwartet! Furcht ergriff ihn bei diesem Gedanken – doch konnte er seinen Blick nicht lösen. Er zwang sich zu mehr Nüchternheit, er benötigte einen klaren Verstand, und so versuchte er verzweifelt, dieses Gesicht einzuordnen.

Die Augen des Menschen ruhten still und klar in einem männlichen Antlitz, dass ihm nun markant und kühn erschien. Dor studierte es, er las darin wie in einem Buch, und erblickte eine Weisheit, die lange Zeitalter zurückreichte. Sogar vor alle Zeit, meinte er. Doch das war natürlich unmöglich.

 

Diese Weisheit war eingemeißelt, sichtbar, und doch verborgen in jedem einzelnen dieser Züge, und selbst Schmerz und Mangel hatten daran nichts ändern können. Vielleicht, überlegte er in dem kläglichen Versuch, dies Geheimnis zu begreifen, vielleicht hatte der Schmerz genau das Gegenteil bewirkt.

Dann musste er wider Willen lächeln:

Da versuchte er, einen halbtoten Menschen zu retten, in der entsetzlichsten aller Welten – und dann erfrischte ein Blick aus dessen Augen ihn mehr als ein klarer Gebirgssee nach einer heißen Schlacht; dieser Gedanke hatte etwas Erheiterndes inmitten aller Trostlosigkeit.

Dann dachte er nichts mehr.

 

Denn Liebe bannte sein Herz.

 

Und Augen, die vor Freude strahlten, weil sie ihn nach langer Trennung erblickten. Das wusste er.

Ein Blick voller Schönheit und Anmut hieß ihn willkommen, vergleichbar nur mit dem wildem Schäumen der Brandung an felsiger Küste. Freude und Stärke, aber auch eigenartige Trauer verschmolzen in diesen Augen, und das erinnerte ihn an etwas, was er nicht fassen konnte, so sehr er sich auch bemühte.

 

Dann war da noch etwas. Beinahe hätte er es nicht beachtet, denn es wirkte so fehl am Platz: Hoffnung und Zuversicht leuchteten ihm entgegen. Das endlich zerbrach alles in ihm, und mit einem Mal hatte er das lächerliche Bedürfnis, sich einem Menschen vor die Füße zu werfen, und zu weinen.

 

Aber nun fing der Mann an, zu laufen, ja, zu rennen. Ein verzweifeltes Rennen war es, ein irrwitziger Lauf.

Mit letzter Anstrengung öffnete er den Mund:

»Befreie meine Braut«, schrie er mit heiserer, sich überschlagender Stimme. »Befreie meine Auserwählte«, brüllte er wie ein Tier, während verzweifelte Tränen seine hohlen Wangen hinunterliefen.

 

Dor stand ganz still.

Er spürte nicht, wie etwas Nasses seine weiße, gefiederte Brust hinunterlief. Nur ein Schmerz brannte in ihm.

Der Schmerz eines Menschensohnes.

 

Voller Verlegenheit senkte er den Blick vor ihm, er sah ihn laufen wie in Zeitlupe, unfähig, sich zu bewegen.

Jetzt erstürmte er den steinigen Pfad. Es waren nur noch hundert Meter. Fünfzig. Er sah seine Beine. Dors Kopf dröhnte, alles drehte sich. Bald würde er ihn erreichen, und dann …

 

Die Beine des Mannes knickten einfach weg.

Im Delirium nahm Dor es wahr, und für einen qualvollen Augenblick meinte er, zu ersticken:

Vor seinen Füssen brach der Mensch zusammen, und mit einem peitschenden Geräusch fiel sein Körper leblos in den glühenden Sand der Wüste.

 

 

 

 

 

 

Teil I

Der Gottesfürst

 

Der du machst Winde zu deinen Boten,

und Feuerflammen zu deinen Dienern.

 

Das vergessene Buch

Buch Der Hymnen –

 

 

 

 

 

1

 

 

Schwach und dünn, doch getragen von einer eigenartigen Sehnsucht stieg der Gesang der kleinen Gemeinde zum Himmel empor. Doch nur in einzelnen Stimmen lag mehr als die Hoffnung auf einen harmonischen Tag nach dem wöchentlichen Kirchgang.

 

Es war angenehm kühl in der steinernen Kirche, angenehm kühl an einem heißen Mittag auf einem idyllischen Fleckchen Erde, und weit weg von Stress und Hektik, dachte Esther, während sie krampfhaft versuchte, das Zittern ihrer Finger unter Kontrolle zu bringen. Sie erinnerte sich daran, was Dr. Schramm, ihr Psychiater, letzte Woche gesagt hatte:

»Ich kenne da eine kleine Kirchengemeinde in der Nähe, außerhalb der Stadt, sehr idyllisch gelegen, gehen sie da mal hin. Das beruhigt die Nerven. Ich bin zwar bekennender Atheist, und glaube an solchen Hokuspokus nicht, aber für gebeutelte Seelen, die Erlösung brauchen, ist dies ein durchaus passabler Ort. Eine fundamentalistische Gemeinde, die glauben noch an den Teufel, aber um die innere Ruhe wiederzufinden, genau das Richtige«, lachte er amüsiert.

 

Diesen Rat hatte sie beherzigt. Und er hatte recht behalten.

Es war wirklich ruhig hier, und immerhin hatte noch niemand eine dumme Bemerkung über ihre abgekauten Fingernägel gemacht.

 

Esther war gerade erst neunundzwanzig geworden, doch sie fühlte sich uralt. Denn ihr Leben war beendet worden, ehe es richtig begonnen hatte. Und während die Gemeinde weitersang, wanderten ihre Gedanken weit zurück in die Vergangenheit, zu einem einsamen Haus in einer mondklaren Nacht.

»Du kannst doch jetzt nicht einfach gehen, deine Tochter braucht dich. Und ich schließlich auch!«, schleuderte ihr Vater mit brüchiger Stimme der Mutter entgegen. Sie hatte schon geschlafen, als ihre Eltern anfingen, sich zu streiten.

Schon wieder, dachte sie voller Angst, nachdem sie durch den lauten Wortwechsel aufgeschreckt war. Und da sie jetzt sowieso nicht mehr schlafen konnte, war sie hinunter geschlichen, saß zusammen gekauert auf der kalten Holztreppe, und hörte, wie über ihre Kindheit verhandelt wurde.

»Josef, ich liebe dich nicht mehr«, sagte Mutter gerade.

»Versteh das bitte. Und das mit Mike, das hat sich halt ergeben. Wo die Liebe hinfällt, du müsstest das eigentlich wissen!«, fuhr sie anklagend fort, doch es klang eher so, als wolle sie ihr Gewissen beruhigen, fand Esther, die ihren Vater innig liebte. Mutter liebte sie natürlich auch, aber die war immer so streng, wollte immer, dass sie alles perfekt machte. Bei Papa konnte sie so sein, wie sie war, dachte sie gerade, als er Mami eine schallende Ohrfeige gab.

»Josef, du besoffenes Schwein, anders kannst du dir wohl nicht mehr helfen«, schrie sie ihm wütend und voller Verachtung entgegen. »Mike schlägt mich nie! Er hat es nicht nötig, er ist ein Mann! Und morgen«, fügte sie triumphierend hinzu, »verlasse ich dich endgültig!«

Kurz darauf hörte sie die schwere Haustür ins Schloss fallen.

 

Gespenstische Ruhe erfüllte das Haus.

Laut schluchzend brach ihr Vater zusammen, und ließ sich hart auf die selbst gebaute Holzbank in der Küche fallen. Und in der grenzenlosen Einsamkeit des großen Hauses weinte er hemmungslos. Still und ohne Tränen weinte seine Tochter mit ihm.

 

In dieser Nacht träumte sie schlecht. Ihr war, als lege sich etwas Dunkles, Schweres auf ihre Brust, und sie konnte kaum atmen.

Nach Luft ringend wachte sie auf, schweißüberströmt. Panische Angst ergriff sie, und sie wimmerte leise, als sie sich schutzsuchend, und so tief es ging, unter ihrer Bettdecke vergrub. Aber da konnte sie noch weniger atmen, und so zog sie die Decke wieder vom Gesicht. Der volle Mond schien hell und silbern durch die Gardinen, bizarre Schatten werfend, und sie sah, dass die große Uhr über ihrer Zimmertüre auf die drei zuging.

Es war so ruhig.

 

Endlich raffte sie all ihren kindlichen Mut zusammen, stieg aus dem Bett, und tapste so schnell sie konnte, aus ihrem Zimmer, die steilen Holzstufen einen Stock höher zum Schlafzimmer der Eltern. Kalt war das Holz, und es knarrte und stöhnte unter ihren nackten Füßen. Als könne es die Last der Bewohner nicht länger ertragen.

 

Atemlos klopfte sie an der großen weißen Tür. Kein Laut.

Leise wisperte sie.

»Papa, Papa! Mama, Papa! Ich hab` solche Angst!«

Als sich nichts rührte, drückte sie die Klinke herunter.

Dunkelheit und Stille empfing sie. Grabesstille.

Wie auf einem Friedhof, fuhr es ihr durch den Kopf.

Ein nicht fassbares Grauen schüttelte sie, während sie in panischer Hast nach dem Lichtschalter tastete. Mit ihren zitternden Händen fand sie nur den Schalter für die kleine Stehlampe, die links vom Türrahmen stand, und so erhellte spärliches Licht den Raum.

 

Das Doppelbett in der linken Ecke war leer!

Müde, und mit angstgeweiteten Augen irrte ihr Blick durch das große Zimmer. Schließlich, in der Mitte des Raumes, blieb er an etwas Dunklem, Langen hängen.

 

Sie nahm nur ein Zucken wahr, ein heiseres Röcheln.

 

Dann blickte sie in leblose Augen, und in ihnen erkannte sie den Abgrund der Hölle. Ihre Beine versagten den Dienst, während sie mit einem würgenden Geräusch zu Boden stürzte.

 

Gnädig erlöste sie die Nacht.

 

So hatte ihre Mutter sie gefunden, als sie um zehn Uhr morgens das Haus betrat, um die restlichen Sachen zu packen. Zusammengesunken auf den Holzdielen des gemeinsamen Schlafzimmers, den Vater am Kronleuchter über ihr hängend.

Ruhig und gefasst hatte sie reagiert, und nach dem Alarmieren der Polizei und des Rettungsdienstes ihre Tochter in ein Krankenhaus gefahren.

 

»Ein posttraumatisches Belastungssyndrom«, hatte der Arzt gemeint. »Wir geben in der Akutphase Beruhigungsmittel, danach muss sie noch einige Zeit zur Beobachtung bei uns bleiben. Wir werden sie informieren, sobald es ihr besser geht.«

Das Bestattungsinstitut hatte ihren Vater gegen zwölf Uhr abgeholt, erzählte Mutter später. Trotz ihrer Fassungslosigkeit war sie wütend gewesen, dass ihr Mann es nicht einmal geschafft hatte, die Tür abzusperren.

»Wenn er schon so etwas Verantwortungsloses macht, muss er wenigstens wissen, wie verstörend es auf ein elfjähriges Mädchen wirken muss, ihren eigenen Vater so zu sehen«, hatte sie später einmal zu ihrer Tochter gesagt, und Esther hatte ihr ohne Zweifel recht geben müssen.

 

Esther erwachte aus ihrem dumpfen Brüten, als eine Frau sich zu ihr umdrehte, sie anlächelte, um sich dann wieder dem Gesang zu widmen. Unsicher ließ sie ihren Blick durch die kleine Kirche schweifen. An der hinteren Wand über dem Altar, der eigentlich nur aus einem Holzkreuz bestand, stand in großen Lettern geschrieben:

Denn ein anderes Fundament kann niemand legen, außer dem, das gelegt ist, welches ist Jesus Christus.

An beiden Seiten der Decke entdeckte sie breite Risse im Gemäuer. Wie passend, dachte sie voller Zynismus, für diesen lächerlichen Glauben und für mein glorreiches Leben.

 

Als sie etwa neun war hatte sie einmal mit ihrem Vater über den Glauben gesprochen. Zugegeben, er war schon damals ein latenter Alkoholiker, seit die Anschuldigungen ihrer Mutter angefangen hatten, aber, warum bitte schön, entschuldigte sie ihn eigentlich?

»Ein Schöpfer«, hatte er damals wie aus weiter Ferne gesagt, »ein Schöpfer existiert nicht. Ich habe in meinem Leben zwar Dinge erlebt, die andere Menschen wahrscheinlich als Wunder bezeichnen würden, und ich selbst habe eine Zeit lang an einen Gott geglaubt; aber die Bosheit und der Schmerz dieser Welt haben mich überzeugt, dass wir alleine sind. Gott ist nicht mehr als eine alberne Selbsttäuschung geplagter Menschen. Eine Übertragung ihrer absurden Wünsche nach Bedeutung und Glück. Ich jedenfalls habe ihn gesucht, und nicht gefunden.«

 

Ob er damals wahrgenommen hatte, wie hoffnungslos und verzweifelt seine Stimme klang, dachte sie?

 

***

 

Den riesigen Adler, der unsichtbar die hintere Kirchenwand ausfüllte, und der sie fasziniert betrachtete, bemerkte sie nicht.

 

Denn als Dor in dieses hoffnungslose Gesicht blickte, meinte er ein Brausen zu hören, eine Stimme aus dem Echo der Zeit:

Befreie das Mädchen, befreie die Auserwählte …

 

Sein Kopf drehte sich. Seine Gedanken überschlugen sich, und sein Geist befand sich in höchster Erregung. Hatte er dieses Mädchen nicht schon irgendwo einmal gesehen? Irgendwann?

Verzweifelt versuchte er, sich zu erinnern:

 

Vor 2.000 Jahren, auf einem toten Planeten.

Der Mann, der in der Wüste starb …

 

 

 

2

 

 

Mit schmerzenden Augen blickte er auf den toten Körper, der zu seinen Füssen lag. Bleierne Müdigkeit ließ ihn taumeln. Wild drehte sich sein Kopf, fiebernde Kälte blockierte seinen Verstand, und er brach zusammen.

 

Stille legte sich über das sterbende Land.

Wie ein Leichentuch, so sanft, als sollten die Gräuel, die hier begangen wurden, für immer vergessen sein. Er hieß sie willkommen, und zärtlich begrub ihn das Schweigen, und für eine köstliche Ewigkeit träumte er davon, tief zu schlafen, um nie mehr zu erwachen.

 

Doch dann vernahm er ein heiseres Flüstern, und ein böser Geist stand kichernd über ihm:

Ja, er hatte richtig gehört.

»Hier werde ich elend zu Grunde gehen«, wiederholte er dumpf.

Abergläubische, rätselhafte Furcht überwältigte ihn, und trieb sein Herz mit schrecklicher Gewalt dem tobenden Meer der Finsternis entgegen.

 

Adonaj! – Adamssohn!

 

Wie ein Donnerschlag zerriss ein Schrei mit seiner brutalen Kraft die tote Stille.

 

War das nicht die Stimme Eljons?

 

War es nicht ein Schrei des Zorns? Ein Brüllen der Verzweiflung, ein Stöhnen der Trauer? Furcht krallte sich in sein wundes Herz, denn jetzt wusste er: SEIN gerechter Zorn war entflammt, einer brennenden Fackel gleich, wer würde ihm entrinnen? Lange hatte er es gefürchtet, dass dieser Tag kommen würde, der Tag des Gerichts, der Tag der Rache für seine bösen Gedanken, für seine lästernden Reden.

Und so klang es für ihn wie der tosende Lärm der Schlacht, wie der Kriegsschrei des grimmigen Kämpfers, den er fürchtete, und der erbarmungslos auszog, alles zu vernichten, was unheilig, wertlos war.

Eine Fanfare zum Angriff war es, als hätte der Kosmos seit ewigen Zeiten auf diesen einen Augenblick gewartet.

 

Die Schöpfung hielt den Atem an – Und wurde zusammengerollt wie eine alte Schriftrolle. Schneller und schneller. Unter dieser Spannung zerriss die Zeit. Zerfressen wie ein unbrauchbarer Vorhang, voller Motten und Staub.

Denn dieses Zeitalter war nun zu Ende. Und so verging die Welt, die er sah, in einem Erdbeben:

 

Krachend und voller Wut stürzten die Felsspitzen in tiefe Schluchten. Wie Donnergrollen wurde das Inferno von den steinernen Türmen der Berge aufgenommen, nur um mächtiger zurückzurollen. Mit dem Bersten der Felsen, deren versprengte Blöcke bis zu dem leblosen Körper im Sand rollten, verhüllte schlagartige Finsternis die Sonne.

Es schien, als wäre sie ausgelöscht, einer leuchtenden Fackel gleich, im Meer des Zorns ertränkt; dichte, dunkle Wolkenmassen drängten sich drohend an ihre Stelle, und gewaltige Blitze zuckten darin, die die Berge spalteten wie riesige, goldglänzende Äxte.

Krachender Donner zerriss den Erdboden, und ganze Felsformationen versanken in gigantischen Schluchten. Eiskalter Wind erhob sich nun, und jagte die fernen Felshänge herunter, nein, ein Orkan, der grausame Stimmen in sich trug. Gellende, hohe Schreie, voller Todesangst und Qual. So laut, und so panisch, dass es schien, die Berge zersplitterten allein dieser Schreie wegen. Immer höher und greller wurden sie, so betäubend, so wahnsinnig, dass selbst Dor, der sie schon einmal vernommen hatte, schutzsuchend den Kopf unter seinen weiten Schwingen verbarg.

Noch in dieser Haltung sah er einen riesigen Feuerball, der am fernen Horizont wie ein Komet in ein Meer jenseits der Grenzen stürzte. Dann war alles still, so plötzlich wie es angefangen hatte.

 

Zitternd hob er den Kopf.

Die Landschaft hatte sich verändert. Nur das klare Licht der Sterne erhellte silbergleissend die kalte Wüste. In bizarrer Schönheit floss das Licht von sieben Monden über die weißen Felsen. Doch das war in weiter Ferne.

Aber dahinter, jenseits des Meeres, sah er ein lebendiges Feuer.

 

Direkt vor ihm jedoch zerwühlte schwarzer, peitschender Regen eine Welt im Todeskampf, und verwandelte diesen Ort der Hölle in eine endlose Ebene aus tiefem Morast.

Mit ausdruckslosen Augen betrachtete er den Regen, bis er endlich begriff, dass dies kein Wasser war, und der Morast kein Morast.

Es waren Nephilim, die in dichten Trauben tot zur Erde fielen.

Bald war die Gegend um den Felsenturm meterhoch mit schwarzen, zuckenden Kadavern bedeckt, und unglaublicher Gestank stieg aus dem Tal empor. Der Gestank der Hölle. Doch komischerweise war der Felsvorsprung, auf dem er kauerte, von dieser Zerstörung völlig unversehrt geblieben.

 

Ihn fröstelte trotz seines dichten Gefieders, und in stummer Qual und stiller Ergebung wartete er auf den Tod. Denn er spürte, wie der Geist des Lebens aus ihm floss.

Aber in den letzten Sekunden vernahm er ein leises Flüstern, fast nicht wahrnehmbar, das ihm versicherte, dass dies unmöglich wäre!

  Wilde Hoffnung regte sich in ihm, und mit aller Willenskraft setzte er sich auf und lauschte, doch er hörte nur den Orkan heulen.

Es war wohl nur eine weitere Täuschung seiner zerstörten Seele gewesen. Aber kaum hatte er dies gedacht, stürzte sich Betäubung erneut auf ihn, wie sich die Geier auf Aas stürzen mögen.

Und mit einer letzten verzweifelten Anstrengung seines Geistes schüttelte er sie ab, und erhob sich zu seiner vollen Größe, und entschied mit aller Kraft, die in ihm war, der Hoffnung zu glauben. Mit größter Konzentration blickte er in die Finsternis vor ihm, und unverhofft durchdrangen seine Augen sie so mühelos, als wäre sie nicht. Sein fiebernder Blick durchforschte die Gebirgskulisse, die diese Gegend begrenzt hatte, aber erfasste nur eine endlose Trümmerlandschaft.

Dichte Wolken drängten sich drohend vor die kalten Sterne. Die Finsternis wurde nun so dicht, dass er nichts mehr sehen konnte, und seine Konzentration ließ nach.

Panik ergriff ihn.

Urplötzlich ließ lautes Dröhnen die Luft vibrieren.

Tief unten in der Erde bewegte sich etwas.

Er kannte dieses Geräusch, und er wusste, er hatte nur wenig Zeit. Schon entstanden erste Risse im Boden, die in rasender Geschwindigkeit zu Spalten wurden, dann zu Abgründen.

Er sah flammende Berge, die sich aus dem Nichts vor ihm erhoben, glühende, gewaltige Felsen von sich schleudernd.

 

Trauer und Verzweiflung marterten sein Herz, als er erkennen musste, dass die Heere des Todes gesiegt hatten.

 

Er hatte geahnt, dass es so kommen würde, und immer gefürchtet, und nun hatte die Furcht ihn gefunden.

Heiser und voller Bitterkeit lachte er auf.

Doch nur ein trockenes Krächzen war hörbar, in der toten Luft.

Furcht verhöhnte seine Seele, und mit einem Mal fühlte er sich unendlich allein. Ein kleiner, hilfloser Adler, der sich verflogen hatte, der in eine Falle gelockt wurde, und den der Geist des Lebens verlassen hatte! Ein langer Schrei voller Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht drang aus seinem gebundenen Herzen, während seine Augen wie abgetrennt von seinem Innersten durch die Dunkelheit stolperten, um endlich zu erblicken, was sie die ganze Zeit ersehnt hatten.

 

Denn dort, zu seinen Füßen, lag der leblose Körper des Mannes, der in seinem getrocknetem Blut auf dem leergefegten, kalten Felsen lag. Er starrte in das tote Gesicht.

 

Dann, aus den Augenwinkeln sah er etwas, was er noch niemals zuvor gesehen hatte: Um den Körper herum wurde ein Kreis in den Fels gemeißelt. Massiver Fels wurde vor seinen Augen von unsichtbarer Hand zerschnitten! In die ringförmige Spalte, die entstand – es war ihm, als reiche sie hinab bis zum feurigen Kern des Planeten, – floss flüssiges, reines Gold, bis der übrige Fels und das Gold auf einer Höhe waren, und sich der Kreis schloss.

Der so entstandene Ring hatte eine Stärke von dreißig Zentimeter gediegenen Goldes, sein Durchmesser betrug etwa zehn Meter.

 

Überwältigt sank er zu Boden, und sein Geist erbebte vor Ehrfurcht, obwohl sein Verstand nichts von dem begriff, was er gesehen hatte. Heiligkeit wehte über ihn hinweg, und Herrlichkeit hüllte ihn ein. Er spürte, wie sein Herz fest wurde, während er von einem unerklärlichem Frieden trank.

Fast widerwillig hob er den Kopf. Während sich die Welt in ein Inferno aus Feuer und glühendem Stein verwandelte, blickte er staunend zu dem entstellten Körper, der sicher im Zentrum des Kreises lag. Alles, was sich im Inneren befindet, ist heilig, dachte er in seltsamer Scheu. Er wartete auf das Kommende.

Denn alles verging nun.

 

Und so war dies das Seltsamste, was Dor jemals in seinem außerordentlichen Leben gesehen hatte: Ein toter Mann, innerhalb eines Kreises aus glänzendem Gold, der alle Dunkelheit vertrieb.

 

Fest und unerschütterlich ragte der Fels, auf dem sie sich befanden, aus dem Flammenmeer empor.

Als er noch immer gebannt zu dem Kreis starrte, durchdrang Weisheit sein Herz. Ein einziger Gedanke stieg aus der Tiefe in sein Herz, voll atemberaubender Klarheit, voll kristallener Schärfe:

Dies ist das Ende des Alten – und der Beginn alles Neuen.

 

Dann durchströmte dieser eine Gedanke seinen Geist mit unsäglicher Freude, so wie er es erst einmal erlebt hatte – im Morgengrauen des ersten Tages.

»Jetzt erinnere ich mich«, schrie er voller Begeisterung.

»Für den ewig Liebenden!«, flüsterte er, trunken vor Glück, während er sich aufsetzte und hörte. Die Antwort war klar und ohne jeden Schleier, und er wusste, was er zu tun hatte.

 

Behutsam betrat er den inneren Kreis. Eine gewaltige Kraft wehte ihn an. Er kniete sich über den toten Körper, der da entstellt und zerbrochen am Boden lag. Er ergriff die ausgezehrte Gestalt, und bettete sie sanft im dichten Gefieder seiner Brust.

Er blickte noch einmal zurück auf eine vergehende Welt. Doch in seinem Inneren erblickte er etwas von der Herrlichkeit und dem Glanz des kommenden Zeitalters.

Dann erhob er sich, und warf sich mit dem, was niemand je ganz ermessen würde, der Dunkelheit entgegen.

 

 

 

3

 

 

Immer schneller flog er in die ewige Nacht. Und während er kraftvoll der Kälte des Raums trotzte, veränderte sich sein Aussehen. Licht ging von ihm aus, strahlende Helligkeit. Die Dunkelheit konnte ihm nichts mehr anhaben, sie floh vor ihm, wie die Nebelschleier, vor der Sonne fliehen.

Seine Augen leuchteten wie feurige Fackeln, und sein Leib wurde ein Komet, der mit glühendem Schweif das All durchschnitt.

 

Plötzlich zerriss das schwarze Kleid des Universums mit der Strahlkraft von tausend Sonnen. Leuchtend hell wurde die ewige Nacht um ihn. Die Luft bebte, und die Druckwelle ließ ihn erzittern.

Er wandte sich um, und sah den dunklen Planeten in einer gigantischen Explosion vergehen. Sein Herz triumphierte, doch im selben Augenblick war die Leere um ihn von wisperndem, bösem Kreischen erfüllt. Er wusste, was es bedeutete.

Das waren die Dämonen, die einst unter der Oberfläche dieses Planeten gehaust hatten, von ihm in einem letzten Akt der Bosheit ausgespien. Durch die zerstörte Atmosphäre drang das Dröhnen der Explosion erst nach einiger Zeit zu ihm.

Aber noch lange klang das Kreischen der Brut hinter ihm her, die hasserfüllt den Verlust ihrer gewohnten Behausung beklagte.

 

Dann ließ er auch das hinter sich, und es wurde still.

 

Schneller und schneller wurde er, ein weißer Blitz, und es gab nichts, was ihn aufhalten konnte. So flog er zwei Tage und zwei Nächte durch die Leere der Räume und die Dauer der Zeiten.

Er bereitete sich vor, auf den schicksalhaften Kampf, dem er nicht entrinnen konnte, und den er fürchtete. Er fühlte keine Müdigkeit, keine Erschöpfung, denn eine geheimnisvolle Kraft umwehte ihn, der Gestalt an seiner Brust entströmend. Er verstand es nicht, doch etwas tieferes als sein Verstand sagte ihm, das dieser Auftrag bedeutender sei als alles, was er je zuvor vollbracht hatte.

 

Jedes mal, wenn er sich der Gestalt, die wie ein Kind an seiner Brust ruhte, zu wandte, schwieg jeder Zweifel, und über dem Frieden der ihn durchdrang, verstummten alle Fragen. Kraft erfüllte ihn dann, wie einen Verdurstenden, der lebendiges Quellwasser trinkt. Und er wurde stärker und stärker.

So näherte er sich dem Tor der Welten.

 

Dann lag es vor ihm.

Unsichtbar und mächtig trennte eine gigantische Tür den Raum. Ein Wall, der Licht und Finsternis voneinander schied. Dieses Tor, errichtet vor Urzeiten, geschmiedet aus Wort und Geist war dauerhafter als jedes Bauwerk aus Stahl oder Stein.

So undurchdringlich war diese Barriere, dass sogar Eljon selbst sie erst einmal durchschritten hatte.

 

»Bel, Fürst der Dunkelheit, zeige dich«, rief er in die Stille hinein.

Stumm lag das stoffliche Universum vor ihm.

»Komm heraus, Verräter, oder hast du es nicht gehört? Vor zwei Tagen ist deinem Reich ein tödlicher Schlag versetzt worden. Hast du es denn nicht vernommen?«

Höhnisches Lachen füllte den Raum, Abgründe von Bosheit lagen darin, und Dor fing an, entsetzlich zu frieren. Minuten vergingen, Stunden. Tage.

Demütigend war es, und unerträglich.

»Deine Zeit ist gezählt, du weißt es!«, brüllte er schließlich in bebender Wut, »lass mich hindurch, denn ich habe einen Auftrag!«

Nach langem und toten Schweigen ertönte die Antwort, die Dor schon kannte. Ein Flüstern erhob sich in den Tiefen, sich langsam und berechnend steigernd zu einem brüllenden, alles vernichtenden Orkan, schmerzend in seiner Abscheulichkeit:

»Die Antwort, auf die du so geduldig gewartet hast, lautet NEIN. Denn niemals mehr wirst du dieses Reich verlassen. Dröhnendes Gelächter aus tausend Stimmen erfüllte die giftige Luft um ihn.

»Allerdings muss ich mich fragen: Woher nimmst du nur den Mut, mir, dem Herren der Zeit, etwas befehlen zu wollen? Hat sich das kleine Adlerjunge verflogen, und findet den Weg nicht mehr?

Denn du weißt so gut wie ich, dass du es nicht schaffen kannst! Ich bin mächtiger als du, und du hast keine Autorität über mich. Denn als Fürst vor allen anderen wurde ich erschaffen, und es dauert nicht mehr lange, da erschaffe ich mich selbst, und bin unerschaffen, und werde herrschen über ALLES

 

Dor wusste es wohl, und sein Herz zerbrach.

 

Höhnisches Lachen, kalt und unbarmherzig, grell und dröhnend zerrüttete seine Seele. Es gellte laut in seinen Ohren und verwirrte sein Denken. Hatte dieser schreckliche Fürst nicht recht? Bel war tatsächlich mächtiger als er. Was machte er an solch einer Stätte, mit einem schwachen, toten Menschen an seiner Brust?

Doch in einem letzten Akt der Hingabe, und in Erinnerung an das Zeichen, dass er gesehen hatte, befahl Dor mit zitternder Stimme, seine Furcht bezwingend:

»Du weißt, unter wessen Befehl ich stehe, und in SEINEM Namen fordere ich: Halte mich nicht länger auf, und lass mich das Tor passieren!«

 

Langsam verhallte diese unerhörte Herausforderung.

Doch dann – während einzelne Schatten aus dem Dunkel stürzten, zückte Dor voller Zorn sein Schwert, und in flammendem Blau leuchtete die Klinge sichtbar und majestätisch in der Finsternis. Und während er sie betrachtete, erfüllten Kraft und Klarheit seinen Geist.

So schrecklich aber war sein Anblick, dass selbst der Fürst der Lüfte zurückkroch in seine Schwärze. Denn Mut hatte den Adler erfüllt, als er seines Auftrages gedachte, und eine lodernde Hoffnung angesichts der Dunkelheit.

Und er war gehorsam bis in den Tod, bereit, sein Leben zu geben.

»Dor, du schwächlicher Knecht eines kraftlosen Königs«, höhnte Bel, doch Dor bemerkte das Zittern in seiner Stimme, »wann erkennst du endlich, dass es dein größter Fehler war, mir nicht zu folgen. Ein Fehler, den du auf ewig bereuen wirst?!«

»Wann erkennst du, Scheusal, dass Eljon dich richten wird! Wann erkennst du, dass deine Anmaßung niemals in Vergessenheit geraten kann?«

 

Und der Geist der Wahrheit erfüllte ihn, er erhob seine Stimme in Kraft, und verkündete das Urteil:

»Bel, du Sohn der Finsternis, ins Totenreich wirst du hinabstürzen in deiner Pracht, und das Rauschen deiner Harfen wird verklingen! Maden werden dein Lager sein, und Würmer deine Decke. Du, der du einst sprachst in deinem Herzen: In den Himmel will ich steigen, meinen Thron erheben über die Sterne des Heiligen, und mich setzen auf den Berg der Versammlung in der äußersten Mitternacht. Dich, ja dich hörte ich deutlich, als du prahltest vor den Thronen: Ersteigen will ich die Höhen der Wolken, mich gleichstellen dem Allerhöchsten.

 

In den Abgrund bist du gestoßen, in die tiefste Gruft!

Wer dich dann noch erkennt, der wird auf dich schauen, der wird dich genau betrachten:

Ist das der Mann, der die Erde erzittern ließ, der Königreiche erschütterte? Soll das der sein, der den Erdkreis zur Wüste machte, und seine Städte zerstörte, der seine Gefangenen nicht nach Hause entließ? Und sie werden jubelnd auf dich schauen, und sagen: Wie bist du vom Himmel gefallen, Glanzstern, Sohn der Morgenröte! Wie bist du zu Boden geschmettert, Völkerbezwinger!«

Voller Zorn, und gereinigt im Schmerz, schleuderte ihm Dor diese Worte entgegen:

»Denn du, Feind der Menschheit, Verächter der Wahrheit, wirst keine Väter mehr in den Tod treiben. Du, Verräter, wirst für deinen Verrat bezahlen. Aus dir wird das Blut fließen, dass in langen, wahnsinnigen Schlachten vergossen wurde. Du wirst die Strafe tragen für Mord und Tod. Für Lüge und Dummheit, für Zauberei und Verführung.

Und endlich wirst du erkennen, was dein schwarzes Herz schon immer wusste, um sich doch dagegen aufzulehnen:

Du wirst nicht entkommen!!!

Weder in Raum noch in Zeit.

Denn siehe, was ich hier durch dein Reich trage!«

 

Und beinahe zärtlich wandte er sich der Gestalt zu, die noch immer an seiner Brust ruhte.

Da ertönte ein Schrei voll tödlicher Angst und blinder Wut. Ein geronnener Albtraum aus den Tiefen des Abgrundes. Raum und Zeit prallten aufeinander, und Schockwellen von geballter Energie pulsierten durch den Kosmos.

»Dafür«, kreischte es grell von allen Seiten, »dafür werde ich die Nation zerstören, immer und immer wieder … die Nation, deren Schoß dieses Kind entstieg … ich werde sie entehren, und sie sei verflucht vor allen Völkern wegen des Knaben an deiner Brust … verflucht sei sie, von nun an, bis ihr Blut die Erde von ihrer Befleckung erlöst … «

 

Aber leiser und leiser wurde die Stimme, bis sie ganz verstummte. Denn Bel hatte sich in sein dunkles Herz zurückgezogen, unüberwindbar und mächtig, und er ballte Regionen der Schwärze um sich, die so dicht waren, dass auch das Licht der fernsten Sterne aufgesogen wurde.

Doch nur ein Gedanke erfüllte Dor:

Nicht vor ihm war Bel geflohen, sondern vor dem Sohn eines schwachen Menschen, der friedlich an seiner Brust schlummerte, und über dessen Haupt nun sieben Sterne leuchteten! Überwältigt von der Gnade, die ihm, dem einsamen Krieger, zuteil wurde, blickte er lange in dieses außergewöhnliche Gesicht.

Dann wandte er entschlossen seinen Kopf, und begann seine Reise durch die große Leere. Er war nun bedeutend schneller als Licht, und mit einem Jubelschrei durchbrach er die Pforten des Todes am Rand des sichtbaren Universums.

 

Sofort stiegen Bilder von Leid und Schmerz in ihm auf. Es war auf der Erde gewesen, bevor er sich auf den toten Planeten gestürzt hatte.

Er war Zeuge einer Hinrichtung geworden:

 

Schmerzend spürte er die rasende Bosheit der Menge.

»Er soll bluten, er soll bluten«, kreischten sie immer und immer wieder. Er vernahm die kräftigen Hammerschläge, die wie wuchtiger Donner seinen Geist erzittern ließen, und die mit roher Gewalt einen rostigen Nagel durch einen nackten Fuß trieben.

Hysterisch und in wilder Ekstase wogte der Mob vor ihm auf und nieder. Speichel traf den Verurteilten von allen Seiten, von Aussätzigen wie von Gesunden. Blut rann in seine Augen, es strömte von seinem Kopf, aus einer Vielzahl von Wunden.

Es muss brennen wie Feuer, dachte Dor, während er geifernde Dämonen sah, die rasend um den Mann herum tanzten. Sie verspotteten ihn, und jubelten, in wilder Erwartung seines nahenden Todes, in zügelloser Vorfreude ihres Triumphs.

 

»Du Verräter deines Volkes, du Verbündeter Satans«, brüllte ein Mann mit hasserfülltem Gesicht, »ich verfluche dich, ja ich verfluche dich!« – »Dein Tod wird ein Freudenfest für das heilige Volk, ein blutiges Festopfer«, kreischte eine hässliche Frau, das Gewand über und über mit teuflischen Fratzen bedeckt.

Das Werk war vollendet, und der letzte Schlag, der die Hand des Mannes an den Holzbalken nagelte, verhallte lange in der schaurigen Stille.

 

Unter Ächzen und lautem Fluchen der Soldaten wurde das Symbol der Folter aufgerichtet. Keine gnädige Ohnmacht erlöste den am Kreuz hängenden, und doch tat er seinen seinen Mund nicht auf. Furchtsam blickte er auf das Blut, das seinen Körper verließ.

Aber seine wirkliche Qual, das wusste Dor, war der Schmerz eines Mannes, der von denen verraten wurde, die er geliebt hatte.

 

Die Sonne brannte erbarmungslos vom stählernen Himmel, und einige Geier kreisten hoch über der Stätte des Todes.

 

Aber plötzlich sah Dor mit den Augen dieses Mannes:

Er erblickte die Stiere, die den Gemarterten umringten, er sah ihre todesgierigen Gesichter, sie umkreisten den Mann, und senkten die Hörner zum Angriff. Dann erschien ihr Fürst, ein widerwärtiger Löwe mit einem riesigen Kopf auf seinem winzigen, zusammengeschrumpften Körper. Weißer, tollwütiger Schaum tropfte aus seinem geöffneten Rachen. Wie ein aberwitziger General für seine groteske Armee, so stolzierte er torkelnd – denn seine dürren Beine trugen kaum den aufgedunsenen Kopf – hin und her. Aber die Menge huldigte ihm, und warf sich vor seine Füße.

»Wie Wasser bin ich ausgeschüttet,« stöhnte der Mann, »und wie Wachs zerschmilzt mein Herz …«

»Reißt ihn in Stücke, dieses Tier«, gellte es.

»Meine Gebeine zertrennst du langsam, und meine Kraft ist vertrocknet wie die eines Insekts! Meine Zunge klebt mir am Gaumen, und in den Staub des Todes hast du mich geworfen. Warum lässt du dies zu, Eljon, warum?«, stöhnte er laut.

Die, die bei ihm standen, zischten ihm ins Ohr:

»Es gibt keinen Eljon, dafür haben wir gesorgt, er kann dir nicht mehr helfen! – Niemand mehr, denn bald fressen dich die Geier!«

»Eljon kann«, flüsterte er so leise, dass sie ihn nicht hören konnten. Dann bäumte er sich auf, und schrie mit lauter Stimme:

 

»Mein Vater wird mich vor dem Löwen retten!«

 

Und in den Sekunden vor seinem Tod streiften diese Augen jene Stadt, vor deren Toren sich heute das Schicksal der Welt erfüllen würde. Dor folgte dem Blick.

Und dort, am flimmernden Horizont, verwandelte sich die Stadt, die der Mann so geliebt hatte, in eine atemberaubende junge Frau. Sie trug das Diadem einer Königin, und voller Anmut schritt sie zu dem entstellten Körper, der da blutend und zitternd an einem Kreuz hing.

Ehrfürchtig sank sie vor seine Füße und küsste sie voller Liebe, während Tränen aus ihren dunklen, zärtlichen Augen sie benetzten.

 

»Vergäße ich dein, oh Jerusalajim«, flüsterte er sanft, bevor er starb. Dies waren seine letzten Worte, doch sie gingen unter in der Raserei der Menge.

 

Und so war er, der Verachtete, vor einem Adler gefallen.

Draußen, in einer anderen Welt.

 

Dor war so in die Erinnerung versunken, dass er nicht bemerkte, dass er alleine war. Da war keine Gestalt mehr an seiner Brust.

Doch die Umgebung hatte sich verändert! Licht durchflutete seine Seele. Herrliches, unbeschreibliches Licht. Er sog es ein wie ein Ertrinkender, und in einem Taumel der Freude betrachtete er das Reich.

 

Gigantische Bögen aus Licht erhellten in flammenden Farben die ewige Nacht. Mächtige Kathedralen aus Rubinen und Saphiren breiteten ihre Schwingen aus im schwarzen Gewölbe Dunkelheit. Sterne funkelten wie Brillanten in schwarzem Samt, und brachen das Licht des Lebens in immer neuen, immer satteren Farbtönen.

 

Halb verdurstet sog er diese Herrlichkeit ein, bis sie sein gesamtes Sein durchdrang. Er legte seinen Kopf in den Nacken, und begann, zu lachen. Er lachte und lachte, und dazwischen weinte er.

Er lachte – bis die Weiten widerhallten von seinem Jubel.

 

So lag das stoffliche Universum dunkel und grenzenlos vor ihm, doch der geistliche Raum war erfüllt mit dem strahlenden Glanz der Ewigkeit.

Tausende von Lichtjahren und doch nur ein winziger Augenblick angesichts der Fülle der Zeit.

Sein Herz jubelte, denn er hatte überwunden!

 

Nur er und Eljon wussten, wen er bezwungen hatte.

Er schwebte, nein er tanzte mit den Sternen.

Sein Herz triumphierte, und siegestrunken schoss er durch sein Reich. Denn alles hatte Sinn und Ziel. Ausgelassen wie ein Kind, tobend wie ein Fürstensohn in seinem Gut, erhob er sich zu seiner wahren Größe, und er fing an zu singen.

Und so erfüllte zum zweiten Mal in der Geschichte der Zeit Gesang die ewigen Hallen.Die Sterne hatten erst ein Mal so etwas Wunderbares vernommen, am Tag ihrer Geburt war es gewesen.

 

Und als sie wiederum Musik hörten, da verbeugten sie sich ehrfürchtig, und verhüllten ihr Haupt. Dann strahlten sie umso heller vor lauter Freude, und der Raum wurde gleißend hell von ihrem Licht. Denn ein Lied war es, wie es niemals zuvor gehört wurde und wie es niemals mehr erklingen wird.

Voller Schönheit und Kraft entwickelten sich seine Themen. Leise, begann es, fast zärtlich, doch kräftiger wurde es, bis es überaus mächtig war, gebietend.

So durchdrang es alles Seiende.

Zu Beginn der Zeit wurde es gehört, wie es auch am Ende zu hören sein wird. Und Lichtjahre hörten auf, zu existieren.

Für diesen Augenblick.

Und als das Lied erklang, vernahm es alles Lebende, und niemand, der es hörte, konnte sich seiner Macht entziehen:

 

Durchbohrt der Schild,

zerbrochen das Schwert

Im Tode er liegt,

der Völkerbeherrscher

Lüge entlarvt, durch

Wahrheit besiegt

 

Dies ist der Tag des Lichts.

 

Fesseln gelöst, Bande gesprengt

Licht bricht hervor aus Todesnacht

Mächte entkleidet, Fürsten besiegt

 

Dies ist der Tag des Lichts

 

Dem Morden der Heere

ist Einhalt geboten,

Dem Tode die Beute

Lachend entrissen

 

Dies ist der Tag des Lichts

 

Und das ist ein Sieg

Auf ewig errungen

Und dies ist sein Siegel:

Er hat es vollbracht!

 

Von solcher Macht waren diese Worte, dass das Lied Raum und Zeit durchdrang. Bis zu einer jungen Frau, an einem fernen Ort, in einer noch ferneren Zeit.

 

 

 

4

 

 

Die Gemeinde hatte aufgehört zu singen. Lange Zeit war alles still. Nur das Zwitschern der Vögel auf den Bäumen, die um die Kirche standen, war zu hören. Sie singen noch weiter, dachte Esther, selbst wenn die Menschen verstummen.

Während sie den Vögeln lauschte, erfüllte mit einem Mal unerklärlicher Friede ihre gepeinigte Seele. Instinktiv wollte sie das Gefühl abwehren, denn es war ihr so unbekannt, so fremd, doch nach kurzen Besinnen, dass sie das ja eigentlich gesucht hatte, ergab sie sich.

 

Denn war es nicht das, was sie unter einer himmlischen Atmosphäre verstand? So sanft, so friedlich?

Nie hatte sie Ähnliches empfunden. Heilend war der Friede. In Wellen kam er, und reichte tiefer als ihr Verstehen und Begreifen. Denn ihr Leben war ein Scherbenhaufen, mühsam zusammengehalten durch einen schwachen und rissigen Willen, der keine weitere Kraftprobe mehr würde ertragen können ... 

Doch dann hatte sie nicht mehr das Bedürfnis, zu verstehen, um die Schwere ihres Schicksals zu ermessen. Sie ließ los, und sie empfing. Und ahnte zum ersten Mal in ihrem Leben, dass da mehr war. Viel mehr!

Etwas, dass tiefer reichte als der Zerbruch ihrer Seele, eine Macht, die ihr Herz vor dem Dunkel bewahren konnte. Warum hatte sie es nicht schon früher gesehen? Hatte sie zu sehr auf ihre Verletzungen gesehen?

 

Und während sie das alles erwog, wurde der Friede tief und schön. Wie ein sanfter Strom, wunderte sich die junge Frau. Dann erstarb alles in ihr. Denn etwas Hartes und Unsichtbares zerbrach, und der Schmerz kehrte zurück, mit größerer Wucht als je zuvor, so dass sie meinte, zu vergehen.

 

Aber auch diese Qual wurde fortgerissen von dem Strom, und mit ihr die Furcht. Dann wurde das Gefühl intensiver, und eine süße, köstliche Schwere legte sich wie ein wärmender Umhang um sie. Sie trank in tiefen Zügen, und sie war glücklich.

 

Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit.

 

Plötzlich hatte sie das dringende Bedürfnis, zu weinen.

Einige Sekunden versuchte sie, diesem lächerlichem Impuls zu widerstehen, dann gab sie auf. Zitternd stand sie auf, und setzte sich scheu in die hinterste Reihe der Kirche.

Sie, die krampfhaft Starke, sie, die erbärmlich Schwache spürte, dass sie die Kontrolle über sich verlor. Spürte, dass etwas geschah, was sie nicht mehr beiseite schieben konnte, etwas, dass seit ihrem Tod vor achtzehn Jahren nicht mehr geschehen war.

Nicht mehr geschehen durfte.

 

Dann, auf dem hintersten Stuhl der Kirche, den Kopf an die Wand gelehnt, brachen die Tränen, die ihrem Willen nicht mehr gehorchen mussten, aus ihr hervor.

Das Leid bahnte sich einen Weg, es kämpfte sich ins Freie, unaufhaltsam, und die Panzerung zerbrach.

Dämme, die sie lange und kunstvoll errichtet hatte, rissen.

Rüstungen, in einsamen Nächten geschmiedet, um den Schmerz zu vermauern, ihn zu verdrängen, ihn mit einem Lächeln zu überspielen, ihn in Anfällen der Wut zu zertrampeln – sie zerschellten.

Und dann erkannte sie: Nicht alle Tränen waren von Übel.

Denn in den Tränen lag auch Trost. Und Befreiung von großer Qual. So saß sie da, vielleicht dreißig Minuten, und weinte hemmungslos.

 

Zum Glück hatte die Gemeinde angefangen zu beten, für interne Anliegen wohl. Nach einer Zeit, die viel mehr war, als diese dreißig Minuten, setzte sie sich auf, und trocknete sich mit einem Taschentuch die Augen.

Verstohlen blickte sie sich um. Zum Glück schienen die Leute sie nicht weiter beachtet zu haben. Sie holte tief Luft, in dem kläglichen Versuch, das Erlebte einzuordnen.

 

Na ja, es war schon ein wichtiges Ventil, weinen zu können. Und schlecht war diese Erfindung der Natur sicherlich nicht. Also gut, sie würde das Ganze schließlich als eine tolle, emotional wichtige Erfahrung verbuchen, eine Erfahrung, die sie wohl auch ihrem Psychiater erzählen sollte. Mehr aber nicht.

 

Gerade erhob sich ein älterer Herr mit kurzem, graumelierten Haar, ging zur Kanzel und stellte sich als der Prediger des heutigen Tages vor.

»Liebe Geschwister«, begann er – und alleine diese Anrede kam ihr aufgesetzt und albern vor – »ich heiße Henrik Lois, und man hat mich gebeten, heute einen kleine Rede zu halten. Ich hoffe sehr, niemanden dabei aufzuwecken.«

Dabei blickte er so verschmitzt in die Versammlung, dass Esther widerwillig schmunzeln musste.

»Ich möchte heute zu einem Thema kommen, das geheimnisvoll ist, und seit beinahe zweitausend Jahren die Phantasie der Menschen beflügelt hat. Es geht um einen Satz aus dem apostolischen Glaubensbekenntnis:

Und hinabgestiegen in das Reich des Todes.

Diese Aussage der Kirchenväter stützt sich auf Texte aus dem ersten Petrusbrief. Wir wollen heute diese zwei Textstellen etwas näher betrachten:

Zuerst 1. Petrus 3,19: In diesem (seinem Geist) ist er auch hingegangen, und hat den Geistern im Gefängnis gepredigt, die einst ungehorsam gewesen waren, als der Langmut Gottes in den Tagen Noahs abwartete; sowie 1. Petrus 4,6: Denn dazu ist auch den Toten die gute Botschaft verkündet worden...

Über die Bedeutung dieser Aussagen ist sich die Theologie und die Christenheit bis heute nicht einig …«

 

Dann folgte die Predigt des Herrn Lois, von der Esther nicht allzu viel mitbekam, denn sie betrachtete fasziniert sein Gesicht:

Er hatte strahlend blaue Augen, Heiterkeit und Würde lagen darin. Er lachte gerne, aber sie erkannte auch, dass ihn dunklere Tage nicht verschont hatten, denn die Furchen auf seiner Stirn, die leichten Schatten unter seinen Augen, und die markanten Züge um seinen Mund verrieten etwas davon.

Doch schmälerte das in keinster Weise die Ausstrahlung von Güte, die diesen Mann umgab.

Ja, insgesamt gesehen vervollständigten sie doch auf feine Art und Weise das Gesamtbild seiner Persönlichkeit.

So auch seine Gesichtszüge: Für sich alleine wirkten sie vielleicht kantig und streng, aber dieser Eindruck wurde abgemildert durch die Augen, welche Freundlichkeit und Herzlichkeit vermittelten.

Doch zweifelte sie keinen Augenblick daran, dass sie auch zornig funkeln konnten – voll gerechtem Zorn natürlich – und in ihrer weiblichen Intuition erkannte sie, dass Unnachgiebigkeit und Härte ebenfalls dazugehörten.

Eben sprach er zum Beispiel mit leiser, klarer Stimme, um dann den selben Satz in einem leidenschaftlichen Appell zu beenden.

 

Er rührte etwas in ihr, was sie nicht begreifen konnte.

Eine Väterlichkeit vielleicht, die ihr Angst machte, die aber eine eigenartige Faszination auf sie ausübte.

Dann war da noch etwas:

Er erinnerte sie – und diese Erinnerung löste in ihr Herzrasen und Schweißausbrüche aus – an ihren Vater!

 

Schmerzverzerrt wandte sie ihr Gesicht ab.

 

Ihr wurde schwindelig, ihr Magen krampfte sich zusammen, und die vertraute Übelkeit kroch aus ihrem Unterleib herauf.

Den Rücken ganz gerade, setzte sie sich auf ihren Stuhl. Ruhig versuchte sie zu atmen, ruhig und tief. Langsam, ein, aus, ein, aus, ein, aus …

»Denn das«, hatte Dr. Schramm gesagt, »ist wichtig, wenn so eine Attacke kommt, und sie kommt bestimmt.«

Und daran hielt sie sich. Doch alles Gefühl in ihr war erstorben, und kalt und empfindungslos saß sie auf ihrem Platz in der hintersten Reihe der Kirche.

 

***

 

Aber die Pläne Eljons sind tiefer, flüsterte Dor, und er wusste, dass es noch jemanden gab, zu dem er gesandt war.

Und diese zwei würden die Welt verändern.

 

 

Denn aus dem Schmerz wird das Leben geboren …

 

 

 

5

 

 

Dennis Meyer war achtunddreißig Jahre alt, und nicht sehr erfolgreich nach den Maßstäben der Menschen, die ihn kannten. Er hatte keine besondere berufliche Karriere vorzuweisen, und war auch sonst nicht allzu ehrgeizig, was ihm eine gewisse Flexibilität verlieh, wirklich das zu tun, was ihm wichtig war.

Doch diese Haltung hatte schon in der Schule den Ärger und die Verachtung anderer erregt, die seine Unbekümmertheit nicht verstanden, und daher mit einer subtilen Art von Spott belegten, den er sehr wohl wahrnahm.

Weil es ihn verletzte, und er sein Herz verschloss, um den Schmerz zu ertragen, weinte er sich oft in den Schlaf.

 

Da er also in vielen Dingen ungebundener war als viele, die nach Erfolg und Anerkennung strebten, hatte er in langen, harten Jahren – in der Auseinandersetzung mit sich selbst und seinen Mitmenschen, was ihn oft an sich selbst hatte verzweifeln lassen –, gelernt, auf seine innere Stimme zu hören, und, was noch wichtiger war, zu erkennen, dass er geführt wurde.

Er war auserwählt, wobei ihm nicht klar war, warum und wofür.

Er wusste in seiner kindlichen Einfalt nur, das dies so war.

Da er dies erkannt hatte, und dieses Wissen schon immer, erst unbewusst, dann Stück für Stück klarer, in seinen Geist gelegt wurde, lernte er Dor kennen.

 

Und nur wenige seiner Zeit kannten ihn so, wie Dennis, da nur wenige die Schmerzen ertrugen, die er ertrug, und nur wenige kämpften wie er kämpfte.

Damals begann er, ihn zu sehen:

Als seine Not am größten war.

 

Denn in seinem Schmerz hatte er von den mächtigen Adlern gehört, hoch oben, über den höchsten Gipfeln, nahe der ewigen Sonne, die allein ihm in seiner Angst helfen konnten. In seiner kindlichen Phantasie hatte er alles begierig aufgesogen, was andere darüber gesagt hatten, obwohl er weder wusste, wer sie waren, noch woher sie kamen.

So hatte er ihren Fürsten kennen gelernt. Seinen verborgenen Namen kannte er nicht, noch auf welche Weise er zu ihm kam, doch spürte er stets den tiefen Frieden, der ihn begleitete, und die verborgene Kraft, die ihn ankündigte.

Dann weinte er oft in seinem Bett vor Erleichterung, wenn seine aufgewühlte Seele nach langen Kämpfen endlich Ruhe fand.

 

Und so berichtete er später:

Ab dem Alter von zehn Jahren besuchte ihn der dunkle Herrscher regelmäßig des Nachts in seinen Träumen. Eine laute Stimme war in seinem Kopf, die unerbittlich und kalt immer dies Eine forderte:

Bete mich an, falle nieder vor mir!

Dennis ahnte damals mehr, als dass er verstand, dass er dieser Stimme nicht nachgeben durfte, um keinen Preis, denn sonst würde er in das Reich der Schatten sinken, und seinen Auftrag und sein Schicksal verleugnen, sowie denjenigen, von dem er ahnte, er stünde hinter allem.

Wenn so der dunkle Herrscher ihn rief, und Dennis ihm mit einem hilflosen ›Nein‹ entgegentrat, dachte er, wahnsinnig zu werden. Die Grenzen der Realität verschoben sich, bizarre Ängste flößten ihm Furcht ein, und blankes Entsetzen umgab ihn. Er dachte, zu ertrinken, und Grauen marterte sein wild klopfendes Herz. Übelkeit überfiel ihn, und er zitterte wie ein dürrer, blattloser Baum in einem Orkan.

In seiner Angst lud er Schuld auf sich, weil der Schmerz so groß war, doch das verdoppelte nur sein Leid und verdreifachte seine Qual.

 

Doch das Erbarmen des Himmels war über ihm, und der Segen des Geistes ruhte auf ihm.

 

Aber das konnte er damals nicht sehen, denn sein Herz war gebunden in Verzweiflung, und gefangen in Sklaverei.

Das waren die Nächte, doch die Tage waren ebenso schlimm:

Es begann in frühester Kindheit, und vielleicht, so meint er heute, wurde damals die Gabe in ihn hineingelegt, die ihn vorbereiten sollte auf das Kommende. Das aber sein Leben zerstört werden sollte, war offensichtlich.

Denn wenn er mit seinen Eltern im Auto fuhr, sah er oft abseits gelegene Bauernhäuser. Bei diesem Anblick erfasste ihn tiefes Grauen, das mit einem eigenartigen Gefühl von Einsamkeit und Melancholie einherging.

Es war etwas durch und durch irrationales. Seine Wahrnehmung veränderte sich – bei vollem Bewusstsein und wachem Verstand – und er meinte in einer ›verwunschenen‹ Welt zu sein.

Einer Welt voller Dämonen, Hexen und Geister.

 

Er spürte das Nichtige und Böse, das Giftige und Hässliche, und es verwirrte seine Gefühle und beeinflusste sein Denken. Dann fragte er sich voller Bangen, ob er gerade in eine fremde Welt eintauchte, die andere nicht wahrnehmen konnten.

Denn es war so, dass sich die Wirklichkeit auf groteske Art und Weise verzerrte. So, als gäbe es keine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, als hörten ihre Grenzen auf, zu existieren, und lösten sich auf. Als würden sie ineinander fließen.

Da waren Fetzen der Vergangenheit, die von Geisterhand erschienen, Sorgen über die Zukunft, die ihn quälten, und die Nichtigkeit des Augenblicks, die ihn verfolgte.

So stand er schutzlos vor dem Meer der Zeit, und die Ebbe der Welt entzog ihm jeden Boden, jede Identität, und zog ihn unerbittlich hinaus auf das stürmische Meer seiner Zwänge und Ängste.

Diese Zustände kamen immer wieder, manchmal dauerten sie einen Tag, oft jedoch waren es nur kurze Augenblicke, in denen er das Gefühl hatte, alle Sicherheit, die er kenne, löse sich auf in Chaos. Wenn diese Momente ihn erfassten, fürchtete er, den Verstand zu verlieren.

 

So kämpfte er mit der Kraft eines zehnjährigen Jungen einen einsamen und aussichtslosen Kampf.

 

Als aber die Nacht am dunkelsten war, und die Schatten am größten, da war auch der Morgen nicht mehr fern, und er erinnerte sich an ein Lied, dass er im Haus seiner Eltern gehört hatte. Dieses Lied war überaus machtvoll und tröstend, ein König hatte es vor langer Zeit einmal geschrieben. Es handelte vom Herrn aller Herren, und König aller Könige, und Dor selbst, der es durch Raum und Zeit aus dem Mund dieses Jungen hörte, durchschritt die großer Leere, um sich ihm zu offenbaren.

 

Und der weiße Adler kämpfte mit erhobenem Arm und der Stärke seines Geistes. Er durchbohrte die dunklen Schatten mit Ruach, seinem Schwert, und er löste den mächtigen Bann, der die Seele des Jungen gefangen hielt. Dann legte er Frieden um sein Herz wie eine schützende Festung, und stellte Wachen um seinen Geist.

Denn er sagte sich:

Der Feind der Menschheit will den Jungen vernichten, denn er sieht sein Herz, und fürchtet sich sehr vor ihm. Gerade darum liebe ich ihn schon jetzt und will ihm helfen, soweit ich kann. Ich werde ihn behüten und bewahren, und ihn lehren, der Wahrheit zu folgen, sie zu lieben und zu begehren, mehr als alle Schätze dieser Welt. Denn wer sie findet, findet Leben.

Seit dieser Zeit wurde ihre Beziehung tiefer.

Es gab Jahre, gerade am Anfang, da sahen sie sich oft.

 

Aber je älter Dennis wurde, je weniger suchte er ihn. So sahen sie sich oft nur noch in seinen dunkelsten Stunden, denn die Intensität ihrer Gemeinschaft hatte Dennis zu bestimmen.

Aber letzten Endes hielt ihre Freundschaft, durch alle Wirren und Stürme des Lebens.

 

Dor lehrte ihn das Kämpfen:

Wie man das Schwert ergreift, und es gebraucht. Wie man den Bogen spannt, und das Ziel nicht verfehlt.

Er lehrte Dennis, wie man den schützenden Schild erhebt, gerade, wenn die Hiebe des Feindes am härtesten waren, und offenbarte ihm das Herz eines Kämpfers:

Denn der Charakter des Kriegers ist das Wichtigste.

Er allein entscheidet darüber, ob die Waffen ihr Ziel erreichen. Dennis hörte ihn, durch Raum und Zeit:

»Daher gürte dich mit Wahrheit, denn sie macht dich unverwundbar; bewahre dein Herz vor den Pfeilen des Bösen durch dein Festklammern an ihr. Denn nur diese Art von Vertrauen wird dir Kühnheit im Kampf verleihen, Furchtlosigkeit in der Schlacht, und du hast die Gewissheit, auf der Seite des Lichts zu stehen.«

 

***

 

Dor jedoch lernte von Dennis nur Eines, doch das war überaus bedeutend, und erfüllte ihn mit Bewunderung:

Den Menschen war eine gewichtigere Rolle zugedacht, als die meisten es jemals ahnten, und selbst er spürte nur dunkel die Fülle der Herrlichkeit, die noch ruhte.

Doch als oberster Befehlshaber einer großen Streitmacht, reich an Weisheit und begabt mit Geisteskraft, bekannt mit vielen Wesen im Himmel und der Erde, spürte er, dass eine gespannte Erwartung über den Hoffenden lag.

 

Etwas Außergewöhnliches würde geschehen, etwas nie Dagewesenes. Die Wurzeln dieses kommenden Ereignisses reichten vom Beginn der Zeiten bis hin zur Erfüllung von Allem, ja bis weit in die Grenzenlosigkeit. Etwas würde anders werden, das Gefüge der Welt würde sich verändern … doch Weiteres vermochte auch er nicht zu sagen, denn es war ihm verborgen.

 

Und so wuchs in Dor eine große Zärtlichkeit für den, der ihm anvertraut war.

 

 

 

6

 

 

Aufgeregt und zornig durchschritt Dennis das kleine Zimmer. Es war ein schwüler Abend im Juni 2007, und obwohl er die Fenster weit geöffnet hatte, war es heiß und stickig.

Voller Interesse verfolgte er die Berichte im Fernsehen:

 

»(…) In Gaza-Stadt gibt es heftige Unruhen. Reihenweise werden Mitglieder der Fatah auf die Straße geschleppt, und öffentlich exekutiert. Denn die Hamas, der militante Arm der ›Gotteskrieger‹ hatte sich gestern mit Waffengewalt den Weg in das ›Preventive Security Force‹, dem Hauptquartier des Fatah kontrollierten Geheimdienstes, sowie in das Büro von Präsident Abbas gebahnt. Zwei Drittel des Gaza-Streifens befinden sich nun unter Kontrolle der Hamas. (…) Es war eine politisch motivierte Säuberungsaktion von brutaler Gewalt, und es sind bürgerkriegsähnliche Zustände,die wir hier erleben …«

 

Dennis war wütend aufgesprungen.

Er hatte es kommen sehen, er hatte es genau so kommen sehen. Er war wütend auf die Medien. Sahen sie denn nicht, mit welcher Präzision sich nun genau das ereignete, was eine Handvoll israelischer Politiker des rechten Likudflügels schon früher mit geradezu prophetischem Weitblick gesagt hatten? Hastig suchte er nach einem Zeitungsartikel, in dem er einige Abschnitte angestrichen hatte:

 

(…) falls der Gazastreifen unter ›palästinensische‹ Verwaltung fällt, werden sich Fatah und Hamas gegenseitig bekriegen, und nur noch Chaos und Blutvergießen werden regieren. Der Gazastreifen wird eine neue Front gegen Israel eröffnen, denn von dort könnten Raketen in kurzer Entfernung auf unser kleines Land abgefeuert werden. Neben der Bedrohung aus Syrien, dem Libanon (...) Die arabische Welt wird sich nun einig sein in dem Bestreben, Israel zu vernichten (...) Unruhen werden toleriert, und Chaos bewusst gesät, um die radikale Hamas als Front gegen Israel in Stellung zu bringen … Die Palästinenser werden sich dabei gegenseitig bekriegen, aber ein großes Ziel wird sie schließlich einen: Die Vernichtung unseres Staates.

 

Das entsprach auch seinen Überlegungen, und er war kein Israeli; aber es war doch so offensichtlich! Den Anfang machte Ministerpräsident Ariel Scharon, der im August 2005 in einem grandiosen Anfall von Großzügigkeit den Palästinensern die Oberhoheit über den Gazastreifen zusicherte. Und das, ohne eine einzige Gegenleistung zu verlangen!

Dass tausende Siedler, die in Jahrzehnten der Entbehrungen diesen Wüstenstreifen fruchtbar gemacht hatten, und durch deren entscheidende Unterstützung er Ministerpräsident geworden war, nun Heimat und Boden verloren, war ihm egal. Eine absurde Geste seiner Friedensabsicht der Welt gegenüber war ihm wichtiger als die Sicherheit und Existenz tausender seiner Landsleute. Seine krisengeschüttelte Amtszeit sollte doch ein politischer Erfolg krönen, damit die Welt ihn als Friedensboten feiern könne!

So hatte sich Ariel Scharon als Verräter seines Volkes erwiesen, und sogar die eigenen Militärstrategen warfen ihm die Preisgabe des Staates vor, der so klein und bedroht war, dass er sich keinen Verlust an Fläche leisten konnte. Denn von welchem Fleckchen Erde aus sollten sie sich dann noch verteidigen?

Dass dieser Scharon fünf Monate danach einen Gehirnschlag erlitten hatte, und seitdem aus dem Koma nicht mehr erwacht war, nun, das war vielleicht ein glücklicher Zufall, dachte Dennis voller Zynismus, während er noch immer laut schimpfend im Zimmer auf und ab ging.

 

Doch plötzlich fing das Bild des Fernsehers an, zu flimmern.

Eine Übertragungsstörung, dachte er, doch ein seltsames Kribbeln erfasste ihn. Das Flimmern legte sich, und ein Bild wurde sichtbar, nicht scharf, aber noch gut zu erkennen.

Rechts oben im Bild las er: RIAD, 1973

Der Film eines Amateurs, schoss es ihm durch den Kopf, aber sein Mund war trocken und ihn fröstelte.

 

Er starrte in ein kahles Zimmer, nur wenige Stühle standen dort, aber zumindest einen der versammelten Männer kannte er aus Berichten über radikale Islamisten. Und seinen Recherchen.

Ein Schauer lief über seinen Rücken.

Der Mann öffnete den Mund. Er sprach mit tiefer, melodischer Stimme, in langsamen, schlechten Englisch, so, als solle es ein Vermächtnis für die Nachwelt sein. Der Ton erinnerte an alte Tonbandaufzeichnungen, und rauschte stark.

Du erhältst Auftrag, diese Familie zu liquidieren. Die Familie von Prof. Dr. Stein.

Diesen Namen intonierte der Mann langsam, fast genüsslich.

Seine ganze Familie. Dann wirst du das Netzwerk aufbauen. Das Netzwerk Allahs. Seine Armee zum Gericht über Europa!

Dennis kannte den Mann!

Beinahe drohend starrte der verstorbene Obermufti von Riad einer verschleierten Frau in die Augen. Sie murmelte etwas auf arabisch, was er nicht verstand. Er konnte sehen, wie sie zitterte, doch sie nickte gehorsam, und er meinte, böses Feuer in ihren Augen zu erkennen.

 

Dann flimmerte der Bildschirm, und er hörte wieder die sonore Stimme des Nachrichtensprechers von NTV zur aktuellen Problematik im Gazastreifen.

 

Diese Hitze bringt einen noch um, dachte er. Mein Gott, der Professor ist doch in Israel, schoss es ihm durch den Kopf. Musste er ihn warnen? War es wirklich sein Professor? Aber dann wäre er bestimmt schon tot!

 

Die Gedanken überfluteten ihn. Schwindel erfasste ihn, doch er konnte sich nicht rühren.

Was war das gewesen? Kein Logo irgendeines Senders war auf dem Bildschirm zu sehen gewesen, dafür war sein Auge zu geschult.

Fast zehn Minuten lang saß er bewegungslos in dem schattiger werdenden Zimmer. Dann stand er mit einem Ruck auf, schaltete den Fernseher aus, und verließ fluchtartig die kleine Wohnung.

 

Die Hitze holte ihn schlagartig in die Realität zurück.

Der glühende Asphalt der Straße und die stehende Luft raubten ihm fast den Atem. Er sehnte sich nach Ruhe und Natur und nach kühlem Wasser, und er litt darunter, dass er hier leben musste, wie er sich immer wieder einredete. Er war kein Stadtmensch, und liebte die Einsamkeit und die Schönheit der Natur, und doch hatte es ihn in eine enge Mietwohnung in den Osten Berlins verschlagen. Aus beruflichen Gründen, aber hauptsächlich, wie er sich selber gestehen musste, weil er vor seinem Schmerz geflohen war.

Denn Esther hatte ihn vor fünf Jahren verlassen.

Warum, wusste er nicht, sie hatte es ihm nie mitgeteilt.

Er wusste nur, dass der Schmerz immer noch so stark war, dass er sich manchmal wie betäubt fühlte, unfähig etwas zu tun, geschweige denn, soviel Geld zu verdienen, um diese gehasste Stadt zu verlassen.

 

Er war freiberuflicher Journalist, und man hatte ihm damals versichert, zu Beginn einer journalistischen Karriere wäre es von Vorteil, nach Berlin zu gehen, der wiedervereinigten Hauptstadt und dem Medienzentrum des Landes. Es wäre zwar – gerade im Osten – zwischen rechten und linken Radikalen, inmitten von hoher Kinderarmut, der höchsten Arbeitslosenquote des Staates, sozialen Missständen; unter Schulen, deren Lehrer fluchtartig das Weite suchen, da sie den Schülern hilflos ausgeliefert sind, nun, es wäre sicherlich ein hartes Pflaster, aber diese fünf Jahre müsse er seiner Laufbahn zuliebe überstehen. Denn vor den Erfolg hatten die Götter bekanntlich den Schweiß gesetzt.

 

Diese fünf Jahre neigten sich nun dem Ende entgegen, doch beruflich konnte man kaum von Karriere sprechen.

Es war vielmehr so, dass er mit einem Berg von Schulden, und ohne Frau oder Kinder in Berlin fest saß. Das war die bittere Realität, und so würde es wohl eine Weile bleiben. Mit diesen trüben Gedanken kam er seinem Ziel, der öffentlichen Bibliothek der Humboldt Universität, immer näher.

Er überquerte gerade den Alexanderplatz, als er von der lauten Parole ›Nieder mit Israel, Sieg der Hamas‹ aus seinen Grübeleien gerissen wurde. Dieser Slogan war zwar eindeutig antisemitisch und fiel unter den Straftatbestand der Volksverhetzung, doch die Polizei in Berlin war nicht immer ganz Herr der Lage. Aus diesem Grund skandierten die Stimmen dumpf und voller Hass weiter.

Es gab also wieder einmal eine pro-palästinensische oder antizionistische Demonstration – das kam ganz auf den Blickwinkel an – und gerade sah er einen arabischen Vater nebst Söhnen, die sich Sprengstoffattrappen um den Leib geschnallt hatten. Dazu war jeweils ein grünes Tuch der um ihre Köpfe geschlungen:

Sieg der Hamas‹, stand darauf.

Dennis bekam Magenkrämpfe. Das war die Art seines Körpers, mit psychischen Spannungen umzugehen.

 

Erleichtert betrat er das klimatisierte Foyer der Bibliothek. An der Garderobe gab er Jacke und Tasche in die Obhut der mürrisch blickenden Angestellten.

Bei dieser Arbeit muss man ja grimmig schauen, dachte er, während er dem Wachmann am Eingang des Lesesaales ein mechanisches »Guten Tag«, zu murmelte, nur um hastig zwei Treppenabsätze zu erklimmen, und nach dem Buch zu suchen, an das er sich erinnert hatte.

Er bemerkte einen Mann in der linken Ecke, der gelangweilt Zeitschriften durchblätterte; ein anderer Besucher fragte lautstark an nach einem Buch, dass sich wohl in dieser Abteilung befinden sollte, nachdem er aber vergeblich gesucht hatte. Darüber war er etwas ungehalten, doch als die ersten Rufe nach Ruhe ertönten, senkte er schuldbewusst den Kopf.

Eine drückende Atmosphäre, dachte Dennis, passt zum Wetter, während er sich mit dem gesuchten Buch an einen freien Tisch setzte. Gedämpft drangen die rassistischen Slogans durch die gekippte Fensterfront.

Bedauerlicherweise war es zu heiß und stickig, um sie zu schließen, denn hier oben gab es aus unverständlichen Gründen keine Klimaanlage. Er seufzte, und widmete seine Aufmerksamkeit dem Buch, das auf dem Tisch lag:

Die Zweistaatenlösung – Segen oder Fluch?

 

Plötzlich geschah etwas.

 

Eine volle Stimme drang in sein Bewusstsein:

Der Film zeigte Verborgenes. Sei unbesorgt. Wenn die Zeit kommt, wirst du es wissen!

Eine Zeitlang saß er mit geschlossenen Augen da, und genoss die himmlische Atmosphäre. Er hatte keine Fragen. Noch nicht.

 

Dann öffnete er das das Buch.

Aufgeregt begann er, die ersten Seiten zu überfliegen. Es war ungemein spannend geschrieben.

Der Titel war natürlich Polemik in Form einer rhetorischen Frage. Der Autor erörterte in dieser Abhandlung, ob wirklich Friede im Nahen Osten herrschen könne, und wenn, welche Hindernisse dem im Wege ständen. In vielem, was er schrieb, war Dennis einer Meinung mit ihm.

Es wurden Faktoren genannt, die den Friedensprozess in unguter Weise beeinträchtigten, und die zum Teil – und hier schmunzelte Dennis, musste er doch dem Autor recht geben – in dumpfer und selbstherrlicher Art von den Medien (vor allen den westlichen) bis zum Erbrechen wiedergekäut wurden.

Da war von journalistischer Ignoranz die Rede, die sich dem humanistischen Zeitgeist und der vorherrschenden politischen Meinung anbiedert, und so ihre Objektivität einer unbestritten antisemitischen Umwelt opfert.

Damit seien sie unfähig, die tatsächlichen Hintergründe einer Bildkampagne oder eines Interviews aufzudecken.

Viele Medienleute, so dieser Abschnitt weiter, seien korrumpiert worden (durch Wettbewerbsdruck, durch die öffentliche Meinung, aber auch durch offizielle Regierungsvertreter), bzw. stigmatisierten sich selbst derart, dass sie – meist unbewusst – die Position der weltanschaulichen Neutralität, eine grundlegende Voraussetzung für professionellen Journalismus, verlassen.

 

Das Beunruhigende aber war, dass nun zahlreiche Beispiele und Widersprüche in bestimmten Medien aufgeführt wurden, über die Dennis bei seinen Nachforschungen schon selbst gestolpert war, die er aber stets als journalistische Schwächen oder emotionale Überreaktionen einiger Kollegen in Stresssituationen – wie zum Beispiel der Kriegsberichterstattung – verharmlost hatte. Dass eine Systematik dahinter lag, hätte er nie vermutet.

In diesem Buch wurde die These vertreten, und sie wurde stichhaltig und anhand zahlreicher Beispiele aus seriösen Quellen begründet, dass in der gesamten westlichen Medienlandschaft größtenteils antisemitische Positionen vertreten würden.

Er las bereits drei Stunden, und näherte sich langsam dem hinteren Drittel des Buches. Zugleich näherte er sich auch der Grenze seines Aufnahmevermögens.

 

Der Mann in der linken Ecke blätterte immer noch in diversen Zeitschriften. Hat der eine Ausdauer, dachte Dennis.

Als er mit dem Gedanken spielte, eine Pause zu machen und bei Burger King Essen zu gehen, sah er aus den Augenwinkeln, wie der ›Zeitschriftenmann‹, sein Handy aus der Tasche fingerte, und eine Nummer tippte.

Arabisches Gesicht, notierte Dennis in seinen Gedanken. Ende vierzig, Marke Türsteher. Kein Akademiker, Bauernhände. Er stellte fest, dass ihn seine berufliche Routine einholte.

 

Es würde nichts mehr bringen, jetzt weiter zu lesen.

Mit einem Seufzer klappte er das Buch zu. Der Mann sprach jetzt so laut auf arabisch in sein Handy, dass Dennis ärgerlich seinen Kopf hob. Er blickte ihm direkt in die Augen. Dennis war verwirrt von dem hasserfüllten Blick, der ihn traf. Spöttisch grinste der Mann ihn an …

 

Ein glühender Schmerz in seiner Brust war das letzte, was Dennis bewusst wahrnahm. Dann nur noch undeutlich, wie in einem schallgedämpften Raum: Wildes Rufen, Schreien. Das schrille Kreischen einer Alarmanlage. Dann wurde es Schwarz um ihn.

 

***

 

Souverän, mit großer Schnelligkeit und ruhiger Konzentration, was er seiner langjährigen Routine verdankte, zerlegte Pierre sein Gewehr und legte die Einzelteile in den maßgeschneiderten Metallkoffer.

Dann verließ er eilig, doch ohne Hast, das Flachdach des leerstehenden Wohnblocks, der sich zweihundert Meter entfernt der Universitätsbibliothek befand.

Im allgemeinen Tumult achtete niemand auf den roten Fiat, der sicher durch das Chaos hupender Autos, durch Polizei-, Feuerwehr- und Krankenwägen stadtauswärts steuerte.

 

***

 

Auch der Adler, der reglos zugesehen hatte, hielt ihn nicht auf.

 

 

 

7

 

 

Dennis erwachte, und das erste, was er fühlte, war bohrender Schmerz in seinem Kopf, dicht gefolgt von einem unerträglichen Druck auf seiner bandagierten Brust. Auch sein Kopf war verbunden.

 

Während langsam die Erinnerungen auf ihn einströmten, steckte eine Krankenschwester den Kopf herein. Sie war offenbar erfreut, ihn wach vorzufinden:

»Guten Morgen, junger Mann! Ich bin so froh, dass sie aufgewacht sind! Der Doktor meinte, wenn es noch länger gedauert hätte, wäre das ein Hinweis auf eine Hirnschädigung gewesen«.

Sie trat an sein Bett, und begann eine Infusionsflasche zu wechseln.

»Nur Natrium-Chlorid«, erwiderte sie lächelnd, als sie seinen ängstlichen Blick bemerkte, »zur Stabilisierung ihres Kreislaufs. Sie haben viel Blut verloren«.

Dennis versuchte zu sprechen, aber es kam nur ein Krächzen heraus. Immerhin, dachte er, lebe ich noch.

»Was ist genau passiert?«, presste er hervor.

Die Schwester setze sich auf seine Bettkante, und sah ihm in die Augen. Diese Geste der Zuneigung war ihm peinlich, und er senkte den Blick.

»Drei Tage haben wir im Krankenhaus um ihr Leben gebangt. Sie haben sehr viel Glück gehabt. Vor drei Tagen wurden sie … – sie suchte nach Worten – … nach … nach diesem Attentat bei uns eingeliefert. Sie waren ohnmächtig, atmeten kaum mehr, und hatten viel Blut verloren.«

Sie sah ihn fest an, als wolle sie prüfen, ob er stark genug für die ganze Wahrheit wäre. Dennis nickte unwillkürlich. Aber auch das bereitete ihm Schmerzen.

Er beschloss, sich nicht mehr zu bewegen.

»Ihre Brust war komplett durch ein Geschoss zerrissen. Wäre das Projektil nur wenige Millimeter weiter unten eingedrungen, hätte es die Wand der Aorta durchtrennt. In diesem Fall hätten wir sie nicht mehr retten können. Als sie dann auf dem OP-Tisch lagen, hatten Sie schon fünf Liter Blut verloren.

Wir wagten kaum zu hoffen, dass sie das überleben könnten. Durch die Wucht des Schusses waren sie auf den Boden geschleudert worden, daher ihre massiven Kopfverletzungen; mehrere Hämatome, die wir glücklicherweise zum Abschwellen bringen konnten, inklusive. Sie sehen also, junger Mann«, sie breitete in einer rührenden Geste die Hände aus, »offenbar sollten sie noch nicht sterben!«

Benommen ignorierte Dennis seinen letzten Entschluss, und nickte schwach.

Dann fiel er in einen tiefen Schlaf.

 

Er sah Dor, mächtig und groß, in gleißendem Licht. Der Krieger sah ihn durchdringend an, doch als er weiter um sich blickte, erkannte er, dass der Adler nur ein kleiner Schatten war angesichts dessen, was er nun erblickte.

Er nahm eine intensive Lichtquelle wahr, er erfasste sie mit seinem Wesen, denn seine Augen waren völlig unzureichend:

Heller als tausend Sonnen, ein Meer aus Feuer, und er meinte sogar, eine Gestalt gleich glühendem Erz darin zu erkennen.

Aber vielleicht täuschten ihn nur seine Augen.

Er wusste jedenfalls, dass er träumte, denn er wäre sofort blind gewesen, hätten seine Augen auch nur einen Bruchteil dieses Lichtes in Wirklichkeit erblickt. Aber auch so konnte er nicht mehr von dieser Helligkeit ertragen, und so sah er sich etwas befangen um.

Er erschrak, denn da war noch etwas, noch JEMAND.

 

Und so, wie zuvor sein Innerstes vor Freude erglüht war, als er von dem Licht getrunken hatte, so krampfte sich sein Herz vor Schmerz und Furcht zusammen, als er in einen dunklen Nebel blickte. Eine pechschwarze Person stand dort, eigentlich nur ein Schatten, doch in einer beklemmenden stofflichen Dichte, und voll widerlicher Gewalttätigkeit. Der Schatten hatte die Größe von Dor, nach dem er sich jetzt sehnte.

Doch dann überblickte er die gesamte Szenerie, und er fühlte sich sicher, denn die Flammen und das Licht füllten alles aus, und er wusste, dass die Dunkelheit, so finster sie auch sein mochte, ihm nichts anhaben konnte.

 

»Gib ihn mir«, ertönte eine Stimme wie kalter Stahl, die in Richtung des feurigen Meeres sprach: »Ich habe ein Recht auf ihn; er ist ein Gefallener. So lautet das Gesetz!« Fordernd und zuversichtlich klang diese Stimme; emotionslos, und doch voller Bosheit; voller Gier und Hass.

Dann hörte Dennis etwas, was er niemals mehr würde vergessen können. Eine Stimme von solcher Autorität und Kraft, dass er meinte, vergehen zu müssen. Sogar Dor erzitterte, und stürzte kraftlos zu Boden.

»NIEMALS!«

Mit brennender Leidenschaft kam die Antwort aus der Richtung des feurigen Meeres. Leise, und doch so laut, dass das Universum von ihrem Klang erzitterte.

»Wer bist du, Bel, dass Du es wagst, etwas von mir zu fordern? Es ist wahr, das Gesetz lautet so, doch – bist du etwa der Gesetzgeber? Ist ein Knecht – ob freiwillig oder nicht – etwa höher als sein Meister. Mein Wille ist ein anderer, und meine Weisheit ist grenzenlos. Und noch etwas, was du niemals verstehen wirst: Meine Liebe wird alles vollenden!«

Dieser letzte Satz war so triumphierend, so über die Maßen machtvoll, dass Bel zurückgeschleudert wurde in die Leere des Raumes, über Lichtjahre hinweg.

Ein Schrei voller Wut und Hass war das letzte, was Dennis hörte, dann stand nur noch Dor leuchtend in der Dunkelheit vor ihm.

»Das«, erläuterte er mit einem fast schelmischen Lächeln, »geschah vor drei Erdentagen.«

 

Dennis wachte auf – nur, um erschöpft wieder einzuschlafen. Diesmal war sein Schlaf traumlos. Dann schreckte er wieder hoch. Er sah auf die große Uhr seines Einzelzimmers. Zwei Uhr morgens.

Ihm war übel, und er merkte, wie er schwitzte.

Wirre Bilder ängstigten ihn. Dann schlief er wieder ein. Etwas, das er vor fünf Jahren erlebt hatte, drängte sich mit aller Macht in einen merkwürdig realistischen Traum:

»Tschüss, mein Schatz – ich liebe dich, auch wenn du es nicht glaubst«, das waren seine letzten Worte, und mit einem Handkuss überließ er sie den routinierten Hände des Sicherheitspersonals am Münchner Flughafen.

Esther flog zu ihrer Urgroßmutter nach Russland, – vielleicht zum letzten Mal, hatte sie gesagt – und er, er blieb zurück. Dabei war alles so gut geplant gewesen. Er hatte sich extra Urlaub genommen, drei Tage, nun ja nicht gerade viel, aber immerhin. Er war frustriert.

Er liebte sie von ganzem Herzen. Doch er war fiebrig erkältet, und hatte sich entschieden, zu Hause zu bleiben. Außerdem konnte er kein russisch, und die meisten dort kein Englisch, geschweige denn Deutsch. Das Wetter sollte sehr schlecht werden, und er hatte mit Esther vereinbart, die Zeit zum großen Teil mit Sightseeing und Wandern zu verbringen. Das würde nun buchstäblich ins Wasser fallen. Es war eine sehr kurzfristige Entscheidung gewesen. Vielleicht übereilt und überzogen … und doch. Er hatte seine Erfahrungen. Wie es sich anfühlte, krank im Urlaub. In einem fremden Land. Aber jetzt fühlte er sich unglaublich schlecht an diesem verregneten Samstag. Er fühlte sich, als hätte er Esther verraten, sie betrogen, sie im Stich gelassen. Er war ein Narr und ein Feigling. Er weinte hemmungslos wie ein kleines Kind, als er sein Auto – ganz entgegen seiner Gewohnheit – langsam heimwärts steuerte.

Er wurde in dieser Woche dann wirklich krank, er hatte sich richtig entschieden, es wäre nicht klug gewesen, er musste ja direkt danach wieder arbeiten. Das war die eine Seite. Auf der anderen Seite lauerte der Schmerz. Der Schmerz über sich selbst, über seinen mangelnden Mut. Er empfand es so, dass Esther an seiner Liebe zweifeln musste. Endlich konnte er ihr einmal die Ernsthaftigkeit seiner Gefühle beweisen – fern aller hohlen Worte – und dann blieb es dabei.

Bei Worten. Wie sollte sie ihm denn noch glauben?

Dann schrie er auf einem einsamen Feldweg seinen Schmerz in den Himmel, seine Unsicherheit, seine Verzweiflung, seine Angst, sein Versagen. Aber niemand in dieser Welt hörte ihn. Nur ein Hase hüpfte in sicherer Entfernung umher, und stellte neugierig seine langen Ohren auf.

 

 

 

8

 

 

Sechshundert Kilometer von Berlin entfernt erwachte Esther in einem Krankenzimmer. Allerdings war die Nervenheilanstalt Haar bei München, oder das ›Irrenhaus Haar‹, wie es bei den Einheimischen genannt wurde, ein nicht ganz so ruhiger Ort.

 

Ein Schreien und Rufen, Toben und Poltern von geisteskranken Patienten, die zwar im Nebentrakt untergebracht waren, was ihren lautstarken Ärger aber nicht wirklich einzudämmen vermochte, erreichte ihr Zimmer. Zum Glück war es ein Einzelzimmer, und sie bekam nicht ganz so viel von diesen Geräuschen mit. Auch, weil sie unter dem Einfluss starker Beruhigungsmittel in ihrem Bett lag. Doch langsam erreichte der Lärm auch ihr Gehirn.

Sie wollte aufstehen, um der Ursache der Geräusche auf den Grund zu gehen, doch seitlich waren die Bettgitter hochgezogen.

Das war ein eindeutiges Ärgernis für sie, und kurz entschlossen drückte sie den roten Klingelknopf mit dem Schwesternsymbol an der mobilen Tastatur ihres Bettes.

»Ich bin doch kein kleines Kind mehr«, protestierte sie mit schwacher Stimme, während sie mit demonstrativen und ungelenken Bewegungen am metallenen Gitter rüttelte.

Bald darauf ertönte eine gebieterische Stimme aus der Nähe des Türrahmens, und diese verkündete in unerschütterlichem Gleichmut das Urteil:

»Das ist lediglich zu ihrem Besten. Wir haben ihnen starke Beruhigungsmittel verabreichen müssen, und sie neigen in nicht geringem Ausmaß zu autoaggressiven Handlungen. Abgesehen davon können sie durch das Medikament ihren Körper nicht mehr kontrollieren. Es ist drei Uhr nachts, schlafen sie jetzt.«

Esther erkannte augenblicklich, dass sie verloren hatte, und schlief wieder ein, dem grauen Nebel des Vergessens entgegen.

 

Als sie die Augen aufschlug, strahlte die Morgensonne in das Zimmer, und ihre Mutter saß auf der Bettkante.

»Guten Morgen, mein Schatz« flötete sie, während sie einen Kuss auf die Stirn ihrer Tochter drückte.

»Ich habe dich vermisst, und Bruno ebenso. Er durfte leider nicht mitkommen.«

Bruno war Esthers ganzer Stolz, ein schöner, eleganter Husky mit blauen, durchdringenden Augen, und seidenweichem, leicht gewellten Fell.

»Du machst aber auch Sachen«, stellte ihre Mutter kopfschüttelnd, im Tonfall gespielter Besorgnis fest.

»In die Kirche zu gehen, und dort einen akuten Nervenzusammenbruch erleiden! Ein Rettungswagen musste kommen! Kein Wunder, dass so etwas gerade dort passiert. Wo auch sonst …«

»Das hat nichts mit den angeblichen Sektierern zu tun«, unterbrach sie Esther ungewöhnlich heftig, »das sind ganz normale Menschen so wie du und ich, warum hackst du nur andauernd auf ihnen herum?«

Erstaunt sah die 53-jährige Frau Esther an. Anscheinend hatte sie dieses leidenschaftliche Plädoyer ihrer Tochter so nicht erwartet.

»Aber Esther, Kind, warum setzt du dich denn so für diese Welterklärer ein, die glauben doch alle, dass wir Juden diesen Jesus von Nazareth ans Kreuz nageln ließen!«, entgegnete ihre Mutter in tadelndem Tonfall. »Außerdem meinen sie, ihr Glaube wäre der jüdischen Religion überlegen!«

Esther schwieg betroffen. Nun, zumindest Ersteres stimmte zweifellos, dass glaubten alle Christen, aber warum nur hatte sie dann diesen Frieden gespürt, warum hatte ihre Seele Ruhe gefunden – bei Judenhassern – in der kleinen Kirche?

 

Nachdem ihre Mutter gegangen war, musste sie noch lange über diese Frage nachdenken. Sie musste eine Antwort erhalten, irgend etwas Bedeutsames hing damit zusammen. Was genau das war, wusste sie auch nicht. Denn eigentlich wollte sie gar nicht darüber nachdenken, es machte ihr Angst, es würde sie vielleicht erschüttern und nur unnötig aufregen. Und doch wartete etwas in ihr auf die Antwort, wartete voller Geduld und – Hoffnung!

Plötzlich hing da ein zusammenhangloser Satz in der Leere ihrer Gedanken:

Du hast mich allein gelassen, darum kannst du mich nicht lieben.

Sie versuchte, ihn zu verscheuchen, doch er war noch immer da.

Du hast mich allein gelassen, darum kannst du mich nicht lieben.

Wie ein Schwert hing der Satz über ihr, kroch in ihre Seele, wie ein totgeglaubter Schatten, den sie doch längst vertrieben hatte. Und nur, weil sie keine Kraft mehr hatte, ließ sie zu, dass der Schatten zu einer Erinnerung wurde.

 

Du hast mich allein gelassen, darum kannst du mich nicht lieben, das hatte sie vor fünf Jahren gedacht, als sie in einem Flugzeug nach Russland saß. So lange hatte sie ihn wiederholt, bis sie daran glaubte.

Dann verließ sie den einzigen Mann, den sie je geliebt hatte.

Doch das erkannte sie erst jetzt.

 

Kurz darauf, nach mehreren Nervenzusammenbrüchen wurde bei ihr eine »dissoziative Persönlichkeitsstörung mit einem generalisierten Angstsyndrom« diagnostiziert:

»Ihre Psyche hat das fatale System entwickelt, sich bei übergroßem emotionalen Druck – quasi als Ventil – in Parallelwelten zu flüchten. Das sind heile Welten, die eine scheinbare Sicherheit vermitteln, die aber vor allem eines kennzeichnet: die Verleugnung der Realität. Das ist ein verständlicher, aber höchst problematischer Verteidigungsmechanismus ihrer Seele.«

Das hatte der behandelnde Psychiater ihr erklärt.

Sie bekam verschiedenste Psychopharmaka, die sie aber nur ruhig stellten, und oftmals in einem durchaus angenehmen Dämmerzustand gefangen hielten. Die einen waren stärker, und dämpften jedes Gefühl, die anderen waren schwächer, und sie musste andauernd weinen. Begleitend hatte sie einmal in der Woche eine therapeutische Sitzung bei ihrem Psychiater.

Nur, wie sie der Hölle ihrer eigenen Gedanken entfliehen konnte, das hatte er ihr bis heute nicht erklären können. Mit dieser Erinnerung schlief sie erneut ein.

 

 

 

9

 

 

Hauptkommissar Becker schritt nervös den langen Gang des Unfallkrankenhauses in Berlin-Marzahn auf und ab. Er war sechzig Jahre alt, dafür noch ungewöhnlich athletisch, und wollte seine Dienstzeit ruhig, und ohne große Aufregung beenden. Fünfunddreißig Jahre war er jetzt bei der Polizei. Achtzehn Jahre bei der Volkspolizei in Ost-Berlin, siebzehn Jahre bei der Kriminalpolizei der wiedervereinten Stadt.

Und vor zehn Jahren war er vom Polizeipräsidenten zum Leiter der Abteilung für Staatsschutz ernannt worden, zu deren Aufgaben hauptsächlich die Verhinderung und Prävention ›politisch motivierter Kriminalität‹, sprich Terrorismus und Extremismus gehörte.

Er hatte Glück gehabt, dass er damals von den westlichen Behörden übernommen wurde, das war nicht selbstverständlich. Aber er war ein fähiger Beamter, er hatte sich nie etwas zuschulden kommen lassen, er war nie bei der Stasi gewesen – obwohl die versucht hatten, ihn anzuwerben. Eine Akte über ihn gab es, das wusste er.

Denn insgeheim - und in feuchtfröhlicher Runde hier und da auch etwas öffentlicher - hatte er die sozialistischen Ideale des Politbüros immer verachtet. Diese Parteifunktionäre sonnten sich doch nur in ihrem eigenen Glanz, und hielten das ›Proletariat‹ in einer ideologisch verbrämten Unmündigkeit gefangen, um sie besser ausweiden zu können. So einfach war das. Religion, und in diesem Fall war es eben Sozialismus, ist tatsächlich Opium für das Volk, dachte er grimmig.

Und nun das. Dieser Journalist Dennis Meyer, auf den zweifellos ein brutales Attentat verübt worden war, und der unter normalen Umständen nach diesem Schuss tot sein sollte.

Aber was war schon normal in dieser Stadt, dachte er mit einem Anflug von Sarkasmus. Es roch alles zu sehr nach Terrorismus, denn sie hatten ein Bekennerschreiben erhalten, und deswegen musste er, Becker, diesen Fall übernehmen. Und dieses Schreiben war keine Fälschung, das hatten die Experten zweifelsfrei festgestellt.

 

ArmDesJihad, kurz A.D.J, so nannten sich diese Leute.

Diese Gruppierung war es, wovor er sich fürchtete. Erstens konnte es für ihn persönlich oder seine Familie gefährlich werden – er kannte Kollegen, die auf diesem Gebiet tätig gewesen waren – und zweitens konnte er hier nur schwer einen schnellen Erfolg präsentieren – das spürte er.

»Ich bin schließlich nicht mehr der Jüngste«, brummte er in seinen Bart.

»Sie können jetzt zu ihm, aber bitte nicht länger als dreißig Minuten, er ist noch sehr schwach«, unterbrach eine Krankenschwester seinen Gedankenfluss.

Becker klopfte an die Tür, dann trat er ein. Er stellte sich kurz vor, zog einen Stuhl ans Bett und setzte sich.

»Herr Meyer, ich habe einige Fragen an sie. Ich bitte sie, obwohl sie hier nicht unter Eid stehen, auf alle Fragen ehrlich zu antworten«, – er zögerte etwas, »das könnte wichtig für sie sein. Denn nach unseren Erkenntnissen stehen sie aus uns noch unbekannten Gründen im Fadenkreuz einer vermutlich islamistischen Gruppierung.«

Der junge Mann im Bett zuckte zusammen.

 

»Das hier wurde uns mit dem Bekennerschreiben vor einigen Tagen zugesandt.«

Becker holte ein Blatt Papier aus seiner Aktentasche, und hielt es so, dass Dennis die Übersetzung lesen konnte:

 

Tötet die zionistischen Schweine. Tötet alle Judenfreunde. Tötet alle Lügenpropheten. Tötet alle Medienverbrecher, die sich in Dinge einmischen, die sie nichts angehen.

Alluha akbar!

ArmDesJihad

A.D.J –

 

Der junge Mann schluckte krampfhaft. Er starrte eine Weile auf das Blatt Papier, als versuche er, es durch seine Gedanken in Luft aufzulösen. Eine Minute war alles still. Becker betrachtete ihn voller Mitgefühl. Er hatte auch einen Sohn, etwa in gleichem Alter.

Der Terror hat Berlin erreicht, dachte er müde.

»Herr Meyer, haben sie eine Ahnung, warum jemand sie, – ich bitte um Verzeihung – einen unbekannten Journalisten umbringen möchte? Haben sie etwas in ihrer Vergangenheit getan, was den Zorn dieser Leute erregen konnte? Sind sie Mitglied einer israelfreundlichen Vereinigung? Verteilen sie Flugblätter? Sind sie Aktivist bei projüdischen Demonstrationen?«

 

Der Journalist überlegte:

»Nein« sagte er. »Ich habe nur einmal, vor drei oder vier Jahren eine Kommentarreihe zur Siedlungspolitik der israelischen Regierung in einer bayerischen Lokalzeitung veröffentlicht. Wissen sie, ich bin wirklich ein … kleiner Journalist, um genau zu sein, ich habe schon seit längerem keinen festen Vertrag mehr, ich, ich arbeite auf eigene Faust, und komme gerade so über die Runden.«

Er bekam einen roten Kopf.

»Warum sollte ich also das Ziel einer islamistischen Terrorzelle sein? Das ist doch lächerlich!«

 

Es schien Becker, als wolle der junge Mann noch mehr sagen, und er sah ihn durchdringend an.

»Das war alles«, stieß Dennis hervor.

Schweißperlen standen auf seiner Stirn.

Anscheinend hatte die Schwester die laute Stimme gehört, denn sie steckte den Kopf herein, und bedeutete ihm energisch, zu gehen.

 

Widerwillig erhob er sich, und streckte Dennis seine Hand entgegen.

»Auf Wiedersehen und gute Besserung. Wenn ihnen irgendetwas einfällt, das Licht ins Dunkel bringen könnte, rufen sie mich umgehend an.«

Er reichte Dennis seine Karte.

»Wir werden fürs erste einen Personenschutz für sie abstellen. Das heißt konkret, zwei Beamte in zivil werden sie rund um die Uhr bewachen. Natürlich für niemanden erkennbar.«

Er reichte Dennis die Hand. Dann blickte er ihn freundlich an.

Wenigstens ist dieser Junge intelligent, dachte er.

 

***

 

In dieser Nacht wälzte sich Dennis unruhig hin und her. Er träumte von hinterhältigen Polizisten, männerhassenden Krankenschwestern und mordlüsternen Terroristen.

Doch dann stand Dor am Fußende des Bettes. Er blickte ihn an, mit lichtdurchfluteten Augen.

 

Plötzlich befand er sich in einem Hörsaal der Ludwig-Maximilian-Universität in München. Es war im Frühjahr 1988, und er hatte gerade angefangen, zu studieren. Im Rahmen seines Studienganges ›politischer Journalismus‹ hatte er Kurse in moderner Zeitgeschichte, insbesondere über die Krisenregion des Nahen Ostens zu besuchen.

Nirgendwo auf der Welt gab es mehr Korrespondenten auf so engem Raum, und kaum eine Stadt wurde in den Zeitungen der Welt so häufig erwähnt, wie Jerusalem.

Der Professor, der dort unten stand, gestikulierte heute besonders energisch. Er war ein leidenschaftlicher Mann, und Dennis mochte ihn. Er schätzte seine menschliche Integrität, politische Akteure von allen Seiten zu beleuchten, ihre geschichtlich und kulturell bedingten Beweggründe herauszuarbeiten, um sie erst dann zu beurteilen. Ebenso wie sein Bemühen, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Denn, und das war eine seiner pointierten Aussagen:

»Die Wahrheit liegt nicht nur im Auge des Betrachters.«

In wessen Augen sie denn sonst liegen sollte, war Dennis zwar nicht klar, aber das kümmerte ihn nicht weiter.

Seine Vorlesungen waren stets gut besucht, und politische Hasardeure, junge Idealisten, sowie träumende Weltverbesserer lieferten sich jedes mal heftige Wortgefechte nach dem Ende der Veranstaltung. Man konnte zwar nicht immer einer Meinung mit ihm sein, aber dieser Mann war doch ein brillanter Wissenschaftler, und seine Analysen des politischen Geschehens im Nahen Osten waren messerscharf und stets treffend. Gerade deswegen waren sie auch – wie sollte es anders sein – polarisierend.

Er war eben ›political incorrect.‹ Und so hatte er glühende Verehrer wie auch leidenschaftliche Gegner. Etwas dazwischen gab es nicht. Gelegentlich stellte sich nach einiger Zeit heraus, dass dieser drahtige Professor, mit dem fast schon prophetischen Blick, politische und gesellschaftliche Entwicklungen skizziert hatte, die dann tatsächlich so eintrafen.

Dennis fragte sich gerade, warum diese Dinge in seiner Erinnerung so eigenartig lebendig waren, als er etwas wahrnahm, was ihm damals – in der realen Welt, wie er durchaus registrierte – wohl entgangen war.

Denn plötzlich sah er einzelne ernste, ja grimmige Gesichter unter den Zuhörern. Diese lachten bei keiner einzigen der Pointen, die der Mann dort unten in der ihm eigenen fulminanten Rhetorik zum Besten gab. Nach der Vorlesung hörte er zwei dieser arabisch aussehenden Studenten erregt miteinander diskutieren:

»Er ist bestimmt vom Mossad. Wusstest du, das er ein dreckiger Jude ist? Einer, der Hitler entwischte. Die Zionisten haben ihn zurückgeschickt, um Hass auf die islamische Nation zu schüren!«

»Doch Allah ist groß, er wird ihn zertreten«, warf der andere ein.

»Aber er braucht uns Gläubige als Werkzeuge, wir werden das Haus des Islam auf Erden aufrichten. Und dieser Jude muss vom Mossad sein, wie sonst sollte er wissen, wie unsere Regierungen agieren, wie sonst sollte er die höhere Strategie des Jihad erkennen?«

»Was sollen wir unternehmen?«, fragte sein Gesprächspartner.

»Weiter observieren – und die Bruderschaft informieren!«

 

Gleißendes Licht erfüllte den Raum um ihn.

 

Dann befand er sich in einem wesentlich kleineren Zimmer.

Auch jetzt wusste er, wo er sich befand. Denn nur einen Monat nach dieser Vorlesung war er in das Büro des beliebten Dozenten gerufen worden. Nun erlebte er alles noch einmal – auf beunruhigende Weise realer, als es damals war. Er sah sich selbst das Büro betreten, dann war er ganz in der Vergangenheit:

»Herr Meyer. Willkommen in meiner bescheidenen Ersatzwohnung.«

Der Professor kam mit liebenswürdiger Geste auf ihn zu, und schüttelte seine Hand.

»Bitte, setzen Sie sich doch«, sagte er, während er auf zwei elegante Ledersessel zeigte, die in der linken Ecke des Büros standen.

Überrascht sah Dennis, dass ein eingerahmtes Foto von David Ben-Gurion – war der nicht Zionist gewesen? –, dem ersten israelischen Ministerpräsidenten, an der Wand über dem Schreibtisch hing. Eine schlichte, aber elegante Menora, stand in einer Glasvitrine rechts neben dem überquellenden Bücherregal.

»Junger Mann«, begann der Professor, »sie fragen sich bestimmt, warum ich alter Mann, sie hierher bestellt habe. Nun, um ehrlich zu sein, ich kann es selbst nicht genau sagen. Das muss ihnen merkwürdig vorkommen, nicht wahr?

Dennis, sie sind einer meiner besten Studenten. Das wollte ich ihnen ausdrücklich sagen. Vielleicht nicht in den Klausuren, es gibt Kandidaten, die erreichen höhere Punktzahlen, aber sie, sie sind wirklich interessiert, und stellen die richtigen Fragen an der richtigen Stelle. Das ist sehr wichtig.«

Der Professor machte eine Pause, als wolle er die Wirkung seiner Worte abzuschätzen. Dennis schwieg verlegen. Noch nie hatte ihm jemand, geschweige denn ein Dozent etwas Derartiges über seine Leistungen gesagt. Dieser Mann war ungewöhnlich, das erkannte er ganz klar.

»Dennis, ich schätze ihre Suche nach Wahrheit außerordentlich.« Der Professor blickte ihn fest an.

»Denn es gibt eine Wahrheit. Es gibt zu allen wichtigen Dingen ein Richtig oder Falsch, und es ist von größter Bedeutung, dies zu unterscheiden. Dennis, behalten sie ihren Weg bei, denn gerade Journalisten – das sind im wörtlichen Sinne Berichterstatter –, stehen sehr in der Gefahr, ihre objektive Sicht preiszugeben, um sich dem Druck der öffentlichen Meinung zu beugen. Ich kenne keinen, keinen einzigen Journalisten, der in diesem Punkt wirklich eine reine Weste hätte. Deshalb ist es wichtig, dass sie ihrem Herzen folgen. Denn der allmächtige Schöpfer hat es für die Wahrheit erschaffen.«

»Welcher Schöpfer?« fragte Dennis unwillkürlich.

»Das kann ich ihnen auch nicht sagen, ich bin kein religiöser Jude, für mich ist Gott wahrscheinlich so wenig existent wie für sie, aber wenn es ihn gäbe, nun, dann wäre er vermutlich außerordentlich an Wahrheit und Gerechtigkeit interessiert. Nur eines kann ich dazu sagen:

Ich bin als neunjähriger Junge der Hölle der Konzentrationslager entkommen. Meine Mutter haben sie dort ermordet. Mein Vater war deutscher Soldat, und hatte sie kurz nach meiner Geburt verlassen. Schließlich haben mich die Amerikaner befreit. Warum wurde gerade ich gerettet? Warum ich? War das ein grausamer Zufall? Oder vielleicht Vorhersehung? Dennis, ich habe es noch nicht herausgefunden!«

Dennis musste seine Tränen unterdrücken. Noch nie hatte ihn jemand so sehr ermutigt, und noch niemals hatte ein fremder Mensch ihm auf diese Weise sein Herz offenbart.

Plötzlich empfand er großes Mitgefühl für diesen Mann, der so viel erduldet hatte, und trotzdem – vielleicht gerade deswegen – ein so charakterstarker und brillanter Wissenschaftler, der mehrere bahnbrechende Fachbücher veröffentlicht hatte, geworden war. Dieser Mann hatte Mut.

Viele reden davon, dachte Dennis, während er beschämt zu Boden blickte, dieser hier hatte über ein Leben triumphiert, das eigentlich auf Tod programmiert gewesen war.

»Vielen Dank, Herr Professor Stein«, sagte er, während er entschlossen aufstand, um sich zu verabschieden.

»Ich habe ihre kostbare Zeit schon viel zu lange in Anspruch genommen. Sie haben mich mit dem, was sie sagten, sehr ermutigt, mehr als sie ahnen.«

»Setzen sie sich, Dennis. Da ist noch etwas«, und zum ersten Mal, seit er ihn kannte, bemerkte er, dass es ihm schwer fiel zu reden.

»Meine Frau möchte sich von mir scheiden lassen. Ich möchte diese Ehe aber unbedingt retten. Vor allem wegen meiner zehnjährigen Tochter!«

Beinahe flehend blickte er ihn an.

»Ihr Vater, nun, ihr Vater ist doch, soviel ich weiß, ein namhafter Psychotherapeut mit Schwerpunkt auf Paartherapie, könnten Sie mal fragen … ob wir einen kurzfristigen Termin bekommen könnten?«

»Selbstverständlich, Herr Professor. Ich werde ihn noch heute fragen. Und ich gebe ihnen mein Ehrenwort, dass ich niemals über das, was sie gerade erwähnt haben, mit anderen reden werde.«

Der Professor nickte kaum merklich.

»Vielen Dank, Dennis. Und Auf Wiedersehen.«

 

Als Dennis das Büro verlassen hatte, überkam ihn das Gefühl einer unbestimmten Bedrohung. Doch er verbannte diese Gefühle entschieden aus seinem Kopf.

Das war etwas Irrationales von früher, heute betrachtete er die Welt so, wie sie war. Dann dachte er noch, dass der Professor sehr verzweifelt sein müsse, wenn er einem Studenten etwas so Persönliches anvertraute.

 

Trotz dieses Traumes erwachte er ausgeruht. Er war nun zwei Wochen im Krankenhaus, und die Kollegen des Hauptkommissars hatten ihm die wichtigsten Dinge aus seiner Wohnung mitgebracht. Das Frühstück aß er heute mit Appetit, die Sonne schien ins Fenster, im Fernsehen sah er gerade NTV, und es versprach, ein recht angenehmer Tag zu werden.

Es klopfte an der Tür. Noch bevor Dennis etwas sagen konnte, stürmte Becker herein.

»Guten Morgen, Dennis«, rief er, »ich habe Neuigkeiten für sie, was die Hintergründe des Anschlages betrifft!«

Dennis schaltete den Fernseher aus.

»Das Projektil, dass ihnen herausoperiert wurde, ist untersucht worden, und die Ergebnisse liegen jetzt vor. Es stammt aus einem Präzisionsgewehr, dass nur Profis bedienen können. Denn auf diese Entfernung, es waren immerhin 200 m, dass konnten wir fehlerfrei durch die Verformung der Kugel errechnen, genau zu treffen – und vergessen Sie nicht, sie müssten eigentlich tot sein –, ist mehr als schwierig! Vergessen sie auch nicht die Glasscheibe, die als spiegelndes und verformendes Hindernis überwunden werden musste. Diese Umstände lassen uns vermuten, dass wir es mit einem gedungenen Mörder zu tun haben. Ein Auftragskiller.

Durch die Errechnung der Schussentfernung, und des Winkels, in dem das Geschoss in ihren Körper drang, war es uns möglich, den Ort, von dem auf sie geschossen wurde, ausfindig zu machen. Ein leerstehendes Bürogebäude. Wir haben dort auch Schmauchspuren, d.h. chemische Rückstände des Abschusses entdecken können.«

Dennis nickte leicht gequält.

»Warum erzählen Sie mir diese langweiligen Einzelheiten ihrer Ermittlungsarbeit an diesem wunderschönen Morgen, Herr Kommissar. War das alles?«

Becker brummte, und wechselte zum Frontalangriff.

 

»Dennis, sagt ihnen der Name Prof. Dr. Stein etwas?«

Dennis spürte, wie alles Blut aus seinem Gesicht wich. Sein Mund wurde trocken, und für einen Moment konnte er nicht reden.

»Ich habe heute Nacht von ihm geträumt«, flüsterte er.

 

Der Kommissar starrte ihn ungläubig an.

»Ich habe im Rahmen meines Studiums des politischen Journalismus in München einige Vorlesungen bei ihm besucht. Er ist Professor für moderne Geschichte mit Schwerpunkt der Zeitgeschichte des Nahen Ostens. Ich habe nur ein einziges Mal persönlich mit ihm gesprochen, am Anfang meines Studiums, es war … – lassen sie mich überlegen, es muss Ende 1988 gewesen sein. Ich habe ihn sehr geschätzt.

Ein sehr integerer Mann und brillanter Wissenschaftler. Er erhielt mehrere akademische Auszeichnungen, obwohl er nicht unumstritten ist. Nur zwei Monate später ging er nach Israel. Er erhielt dort einen Lehrstuhl an der Hebräischen Universität in Jerusalem, wurde mir gesagt. Ich habe ihn – sehr gemocht. Warum fragen sie mich nach ihm?«

Dennis Augen wurden feucht, als er sich nun schon zum zweiten Mal an diese einzigartige Begegnung vor neunzehn Jahren erinnerte. Verlegen blickte Becker zu Boden.

»Dennis, wir forschten nach Verbindungen, und wir hatten überhaupt nichts in der Hand, wir benötigten irgendeinen Anhaltspunkt, warum ausgerechnet sie Opfer eines Attentats wurden. Es gab ja lediglich dieses Bekennerschreiben. Also suchten wir nach Personen, die mit ihnen in welcher Verbindung auch immer standen, und die ihrerseits das Interesse einer islamistischen Terrorzelle erregt haben könnten. So gelangten wir zu einem gewissen Prof. Dr. Stein.

Ich werde ihnen nun erzählen, was wir über diesen Mann wissen, und warum wir der Meinung sind, er stände in irgendeiner Verbindung zu dem versuchten Attentat auf sie. Zuerst das für sie wahrscheinlich Schmerzlichste:

Prof. Dr. Stein ist schon seit Jahren tot. Er hat sich im Januar 1989 das Leben genommen.«

 

Fassungslos starrte Dennis ihn an. In seinem Kopf wirbelten Bilder und Wortfetzen umher.

Israel, Pulverfass Naher Osten, ›... die Wahrheit liegt nicht nur im Auge des Betrachters‹, islamistischer Terror.

Es ergab alles keinen Sinn! Es war so sinnlos!!

Die Guten wurden getötet, die Lüge triumphierte. Der dunkle Herrscher lachte. Die Bedrohung wuchs. Warum hatten sie ihm gesagt, der Professor wäre nach Israel zurückgekehrt, was war mit der Paartherapie, er hatte doch damals extra einen Termin arrangiert, und sich gewundert, warum der Professor ihn nicht abgesagt hatte …

 

***

 

Der Hauptkommissar, der keineswegs der harte Polizist war, den er manchmal darstellen musste, hatte das Zimmer verlassen, als er merkte, was diese Nachricht in Dennis auslöste.

Nachdem er einen Kaffee getrunken hatte, ging er noch einmal auf die Station zurück.

»Ach, sie sind noch da!«, rief ihm der Stationspfleger zu, der ihn offenbar suchte. »Herr Meyer möchte noch einmal dringend mit ihnen sprechen.«

Als er das Zimmer betrat, sah Dennis sehr mitgenommen aus. »Erzählen sie mir die ganze Wahrheit. Was hat das alles mit mir zu tun? Wer war der Professor?«

Er sah ihn aus verzweifelten Augen an. Becker seufzte.

 

»Das, was ich jetzt sage, sage ich, um ihnen zu helfen. Ich glaube, sie haben ein Recht darauf. Eigentlich dürfte ich das nicht, da es streng vertraulich ist. Sie dürfen mit niemandem darüber reden.«

Etwas leiser redete er weiter.

»Professor Dr. Stein wurde 1935 als Jaakov Stein in Berlin geboren. 1943 wurde er zusammen mit seiner Mutter, einer russischen Jüdin nach Sachsenhausen gebracht. Sein Vater war deutscher Wehrmachtsoffizier, der dann später der NSDAP beitrat. Sie waren natürlich nicht verheiratet, dass wäre Rassenschande gewesen, und er hatte die junge Frau kurz nach ihrer Entbindung verlassen.

1944 wurde sie in Sachsenhausen ermordet, der kleine Jaakov 1945 von den Amerikanern befreit. Er wurde von einem jüdischen Kinderhilfswerk für Kriegswaisen aufgenommen, und kam 1947 nach Israel, wo er von Pflegeeltern großgezogen wurde. Er fiel schon in der Schule durch seine Intelligenz auf.

1954 bis 1958 studierte er an der Hebräischen Universität in Jerusalem Geschichte, und promovierte nur sieben Jahre später. Mit dreißig Jahren berief ihn die Universität zum jüngsten Professor des jungen Staates.

In Jerusalem lernte er wenig später seine erste Frau kennen. Doch es hielt ihn nur fünf Jahre in Israel, dann zog er mit ihr in seine alte Heimat. Ihm war eine Professur an der Universität München angeboten worden, die er auch annahm.«

Er machte eine Pause, um sich zu räuspern.

»Jetzt wird es spannend. In den Jahren 1973–1978 erregte er internationales Aufsehen durch die Publikation einer Reihe von geschichtswissenschaftlichen Büchern, die aber so packend geschrieben waren, dass auch Nicht-Fachleute begeistert waren. Ein Buch wurde sogar ein Bestseller. Es löste hierzulande hitzige Debatten aus. Der Titel lautet:

Die Zweistaatenlösung – Segen oder Fluch?

Dennis unterbrach ihn aufgeregt:

»Ich kenne das Buch, der Autor heißt Dr. Schneider, ich habe darin gelesen … in der Bibliothek – vor dem Schuss!«

Becker hob beschwichtigend die Hand.

»Ich weiß, ich weiß, lassen sie mich ausreden. Also: Dieses Buch wurde von linken Intellektuellen von Deutschland bis nach Amerika regelrecht in der Luft zerrissen. Es war zu provokant. Zu polarisierend.«

Dennis hörte atemlos zu.

»Daher veröffentlichte er unter dem Pseudonym Dr. Schneider. Es war brisant, und es war eine Zeitbombe. Dr. Schneider erhielt zahlreiche Morddrohungen unter einer Adresse, die nie existierte.«

 

***

 

Dennis meinte, wirkliche Anteilnahme am Schicksal des Professors aus der Stimme des Komissars zu hören.

»Er stellte in diesem Buch die These auf, ob es überhaupt sinnvoll sei, eine Zwei-Staatenlösung zwischen Israel und der PLO anzustreben, da die Charta der PLO als ihr oberstes Ziel bis zum heutigen Tag die Auslöschung des jüdischen Staates propagiert. Ja, mehr noch, ob die Palästinenser überhaupt ein historisches Recht auf einen eigenen Staat hätten. Das war natürlich ein Affront gegen die noch jungen Friedensbewegungen, die sich in dieser Zeit als Reaktion auf den Kalten Krieg und Vietnam überall in der ganzen Welt etablierten, auch in Israel.

Da er seine Thesen aber auch in seinen Vorlesungen und in der Öffentlichkeit vertrat, erhielt er oftmals sehr feindselige Reaktionen. Er trat dann in zwei Fernsehsendungen auf, was vermutlich ein Fehler war. In der Folge wurde er der Unsachlichkeit und sogar der Volkshetze bezichtigt. Von den Linken wurde er als Faschist bezeichnet, von den Rechten als Judenfreund.

Durch diese Reaktionen irritiert und verletzt, zog er sich in den 80-Jahren aus der Öffentlichkeit zurück. Es wuchs Gras über die Sache, seine Positionen vertrat er nunmehr moderater, und allmählich erwarb er sich den Ruf eines seriösen und brillanten Wissenschaftlers.

Ich erzähle ihnen das alles deshalb, weil es Hinweise gibt, dass er trotz seines Rückzuges in das Fadenkreuz von PLO-Aktivisten geriet. Und hier ist die Verbindung zu Ihnen:

Sie studierten gerade sein umstrittenstes Buch, sie sind ein Journalist, der die Siedlungspolitik Israels verteidigt, und ihre Veröffentlichungen in einer bayrischen Lokalzeitung, es war übrigens der ›Münchner Merkur‹, wurde von gewissen Leuten kritischer betrachtet, als sie es vielleicht wahrhaben wollten.

Weiter: Sie fielen diesem Personenkreis durch nicht ganz konforme Fragen und Statements während der Vorlesungen des Professors auf, und sie verteidigten seine Positionen in studentischen Diskussionsrunden. Schließlich hatten sie ein gutes, für einige ein zu gutes Verhältnis zu ihm.«

»Aber warum ist auf ihn nie ein  Anschlag verübt worden, sondern auf mich, einen ›Trittbrettfahrer‹?«, fragte er verwirrt.

»Möglicherweise wurde das bereits versucht«, antwortete der Kommissar leise.

 

Dennis blickte ihm in die Augen.

Dann erzählte er ihm doch von dem Film, den er vor dem Verlassen in seiner Wohnung gesehen hatte. Der Kommissar hörte skeptisch zu, versprach aber, dieser Sache nachzugehen.

»Falls an dieser Geschichte etwas dran sein sollte, und ehrlich gesagt, es klingt nicht gerade überzeugend, müsste man seine Familie, die noch in Deutschland lebt, warnen.«

 

 

10

 

 

Esther sah den weißen Adler dort oben am blauen Himmel fliegen. Er flog sehr hoch, und sie konnte ihn nicht so gut erkennen. Auf seinen schneeweißen Schwingen glänzte die Sonne wie Gold, und sie musste schützend mit den Händen ihre Augen bedecken.

Sie stand auf einem hohen Berg, und versuchte mit aller Kraft den Blick zu halten, auf den Adler vor der Sonne.

Sie fing an zu weinen, weil es ihr nicht gelang, weil der wunderschöne Adler zu hoch, und sie zu weit unten auf der Erde war.

In ihrer Verzweiflung hob sie die Hände, und schrie etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand. Dann brach sie weinend zusammen, und ihre Tränen sickerten in den harten Fels des Gipfels.

 

Auf einmal wuchs dort Gras, und es wuchsen Blumen auf dem harten Fels und ihr wilder Schmerz verwandelte sich in stilles Leid.

Dann blickte sie auf, verwundert über das Gras unter ihren nackten Füßen, und dann sah sie ihn, und er blickte ihr geradewegs in die Augen.

Überwältigt betrachtete sie ihn. Sein volles Gefieder war leicht gewellt. Dicht und anmutig floss es von seinem Haupt über seine strahlend weiße Brust hin zu seinen langen, kräftigen Schwingen. Die äußeren Federn seiner Flügel waren bedeckt mit glänzendem Gold.

»Wer bist du?« flüsterte sie, benommen von der Herrlichkeit dieser Erscheinung.

»Warum fragst du nach meinem Namen, den du doch nicht verstehst? Denn es ist zu früh, mich dir zu offenbaren.«

Tapfer schluckte sie die Tränen hinunter.

»Vergiss nicht, das ist unsere erste Begegnung«, fügte er sanft hinzu. Sie blickte in seine Augen, und ein reines, ewiges Feuer glomm darin.

Sie senkte ihren Blick.

»Denn du bist hier«, sprach er, »weil dich jemand liebte, als du nur Hass kanntest. Du wirst ihn jedoch wiedersehen.«

Dann schwang er sich mühelos empor, majestätisch der Sonne entgegen, als wäre er der König des Himmels. »Wann sehe ich dich wieder?«, schrie sie ihm verzweifelt hinterher, das Gesicht tränennass.

Doch sie erhielt keine Antwort.

Schluchzend fiel sie ins Gras.

Eine wilde, leidenschaftliche Sehnsucht hatte sie erfasst, nach dem Adler und nach dem Licht. Und niemals mehr, das wusste sie, würde sie Frieden finden, bis diese Sehnsucht gestillt wurde.

 

Sie schlug die Augen auf.

»Wer mich sucht, der wird mich finden …«, hörte sie gedämpft aus dem Nachbarzimmer.

Ach ja, die alte Dame von nebenan hatte sich den Besuch des Pfarrers erbeten. Mit der achtzigjährigen, schwer dementen Frau verstand sie sich prächtig. Es war gerade das Anspruchslose in ihren ›Gesprächen‹, dass sie genoss.

Seit drei Tagen kam diese schrullige Dame abends immer in ihr Zimmer, um ihr sehr unzusammenhängend die Lasten ihres Lebens anzuvertrauen. Dabei beschränkte sie sich eigentlich auf eine einzige Erinnerung, die sie mit immer anderen Bedeutungen unterlegte, aber stets auf charmante Art. Am ersten Tag hatte sie etwas Merkwürdiges gesagt, noch merkwürdiger als die verworrenen Erinnerungen einer senilen Greisin:

»Lies im vergessenen Buch«, hatte sie gesagt, ganz wie Geisteskranke manchmal aus dem Zusammenhang reden, und für diesen Augenblick völlig klar sind.

»Das vergessene Buch ist das Buch hinter dem Buch der Bücher. Es ist vergessen, weil die meisten, die es lesen, seine Kraft nicht kennen. Denn viele haben Augen, und sehen nicht, und viele haben Ohren, und hören nicht. Es ist der Geist hinter dem Wort. Der Geist, der die Wahrheit ist!«

Dann fiel sie wieder in ihre alte Sprache zurück, und fuhr fort mit ihrem Bericht der Vertreibung aus Ostpreußen.

 

Erst jetzt dachte Esther über das nach, was sie gerade erlebt hatte. War es eine Vision? War es Realität, war es ein Traum, waren es vielleicht die Medikamente?

Denn ab und zu können unter Einfluss von Psychotika auch Halluzinationen auftreten, das wusste sie. Und doch war ihr Bewusstsein noch immer ganz durchdrungen von der strahlenden Kraft dieser Begegnung.

Warum habe ich dieses Erlebnis gehabt, fragte sie sich.

Du bist hier, weil dich jemand liebte, als du nur Hass kanntest. Du wirst ihn jedoch wiedersehen.

 

Und dann sah sie ihn wirklich.

 

Zu lange hatte sie diese Erinnerungen weggeschlossen.

Zu schmerzhaft waren sie. Wie unterirdische Wellen kämpften sie sich an die Oberfläche, waren nicht mehr aufzuhalten:

Sie hatte Dennis kennen gelernt, als sie zweiundzwanzig war, er war einunddreißig. Es war auf einer Millenniums-Feierlichkeit zur ›Begrüßung des neuen Jahrtausends‹ in seiner ehemaligen Uni gewesen.

Eigentlich nur eine übliche, bessere Silvesterparty.

Das hatte sich Dennis wohl auch gedacht, denn als sie den jungen, gutaussehenden Mann schüchtern fragte, wo denn hier die Toilette sei, stand er gelangweilt mit einem Glas Champagner in einer Ecke.

Er erklärte es ihr, so gut es ging, und als sie seiner Wegbeschreibung nicht ganz folgen konnte, bahnte er ihr mit dem Glas voran den Weg, und lieferte sie vor die Tür zur Toilette ab, nur um zu erklären, ab hier müsse sie den Weg selbst finden.

Esther musste kichern, während sie daran dachte.

Sie war mehr als überrascht, als sie wieder herauskam, und Dennis immer noch im Gang auf sie wartete. Peinlich war es ihr auch. Er fragte sie, ob sie Lust hätte, heute Nacht mit ihm auf den Olympiaturm zu fahren, auf dem auch gefeiert würde.

Obwohl sie sonst nicht zu spontanen Entscheidungen neigte, und obwohl sie ihn nicht kannte, war sie sofort einverstanden. So verabschiedete sie sich von ihrer Freundin, um ihr privates kleines Abenteuer zu erleben. Sie verstanden sich auf Anhieb gut.

Sie konnten über alles reden und über alles lachen. Sie hatte das seltene Gefühl, bei ihm könne sie sein, wie sie ist. Ohne sich zu verstellen, ohne zu spielen. Gerade sie, die von ihrer Mutter stark gegängelt wurde, die immer die Brave, Anständige zu sein hatte, die ja nicht zeigen durfte, wie labil sie war, genoss diese Zeit in vollen Zügen. Sie empfand eine Freiheit, die sie regelrecht in einen Rausch versetzte.

Und die nächtliche Sicht vom Fernsehturm auf das in allen Farben explodierende München war tatsächlich ein beeindruckendes Schauspiel. Und sehr romantisch, dachte sie jetzt.

Seltsamerweise hatte sie diese Gefühle damals nicht gehabt. Vielleicht war sie noch nicht reif für diese Art von Empfindungen gewesen.

Dennis war Reporter für den Lokalteil des ›Münchner Merkur‹, keine große Sache, aber es reichte, um eine helle, geräumige Wohnung im soliden Münchner Westen zu mieten.

Sie selbst konnte nichts zu den Kosten beitragen, da sie nach dem Abitur für längere Zeit krankgeschrieben war. Aber ihn schien es nicht zu stören, er war glücklich, wenn sie glücklich war, und litt mit ihr, wenn sie Kummer hatte.

Als Gegenleistung, so verstand sie es, putzte sie die Wohnung, kochte für ihn, bügelte – und wurde immer unzufriedener. Sie fühlte sich überflüssig, sie litt unter ihrer psychischen Verfassung, ihrer Sprunghaftigkeit, ihren hysterischen Anfällen und ihren Nervenzusammenbrüchen. Trotz regelmäßiger Psychotherapie änderte sich nichts daran, und die existentielle Verzweiflung über den Schmerz, der unter der Oberfläche lauerte, wurde immer stärker.

Ihre soziale Phobie war nun so ausgeprägt, dass sie Angst hatte, mit Menschen zu reden, denen sie – ihrer Meinung nach – ohnehin nichts entgegenzusetzen hätte. Und so isolierte sie sich immer mehr.

Der Selbstmord ihres Vater war inzwischen zu einem gut gehüteten Familiengeheimnis geworden. Niemand außerhalb der engsten Familie durfte davon wissen, denn die Schande wäre einfach unerträglich gewesen. Ihr geachteter, geliebter, brillanter Vater, hatte sich das Leben genommen. Das durfte nicht sein. Ihre Mutter und sie setzten eine dreiste Lüge in die Welt. Eine Lüge, um Menschen abzuwimmeln:

Die Lüge vom nächtlichen Herztod ihres Vaters. Und hatte er nicht wirklich Probleme mit dem Herzen gehabt?

Die Wahrheit hatte sie sogar vor Dennis geheim gehalten. Sie hatte panische Angst, er würde sie mit diesem ›Schandfleck‹ in ihrer Vita sofort verlassen.

An dieser Stelle wurde sie von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt. Selbst den einzigen Mann, den sie je geliebt hatte, hatte sie jahrelang belogen.

 

Dennis war damals beruflich sehr eingespannt gewesen, da er den ›richtigen Riecher‹ hatte, und für immer intensivere Recherchen herangezogen wurde.

Nur ein Jahr später, an Silvester 2000/2001 machte er ihr einen Heiratsantrag. Er liebe sie aus ganzem Herzen, und wolle ihr ein guter Ehemann sein. Sie dachte, als seine Ehefrau wäre sie finanziell abgesichert, sie müsse sich keine Sorgen mehr um die Zukunft machen, sie würde Psychologie studieren, Kinder großziehen, eine gute Mutter werden, und glücklich sein.

Das war der Traum ihrer kleinen Welt. Also verlobten sie sich, und im Frühjahr 2003 wollten sie heiraten.

Doch es sollte ganz anders kommen.

 

Ihre Zusammenbrüche häuften sich, ihre psychische Belastbarkeit nahm rapide ab. Alles wurde ihr zu viel, die kleinsten Dinge an Dennis brachten sie jetzt zur Weißglut. Sie fraß es in sich hinein, denn sie traute sich nicht, ihm gegenüber offen zu sein. Sie hatte Angst, er würde das Weite suchen, wenn sie ihm ihre Wut und ihre Verwirrung zeigte. So war sie meist nur depressiv, gereizt und wortkarg. Dennis bekam dies natürlich mit, litt mit ihr, aber irgendwann wuchs auch in ihm Zorn über ihre Weigerung, mit ihm zu reden.

Dann kam es zu einem Vorfall am Flughafen München:

Im Juli 2002 wollte sie für eine Woche zusammen mit Dennis, ihre Urgroßmutter in Moskau besuchen. Wahrscheinlich zum letzten Mal, hatte sie gedacht, denn die alte Dame war schon 99 Jahre alt. Trotz dieses Alters führte sie noch den eigenen Haushalt, und das war eine Leistung, wofür Esther sie bewunderte.

Die alte Frau hatte ein sehr bewegtes Leben gehabt, und ihre einzige Tochter, die Mutter ihres Vaters, war von den Nazis ermordet worden.

Eigenartigerweise hatte Esther nicht mehr darüber wissen wollen. Es war ihr niemals in den Sinn gekommen, dass diese Geschichte auch Teil ihrer Geschichte sein könne, dass da irgendeine Verbindung zwischen diesen zwei Leben bestehen könne.

Sie war wohl zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen.

Nur einmal, mit siebzehn Jahren war sie schon einmal dort gewesen. Damals war sie ernstlich suizidgefährdet, und unter anderem dieser Frau war es zu verdanken gewesen, dass sie heute noch am Leben war.

»Dein Leben ist geplant, und auch wenn du keinen Sinn darin erkennst, es ist gewollt, und er wird es auch vollenden. Es wird die Zeit kommen, da wirst du verstehen.«

Diese Worte hatte die Uroma mit einer solchen Gewissheit gesagt, dass Esther meinte, die Gegenwart von Engeln zu spüren. Sie glaubte zwar nicht an so etwas, noch würde sie es jemals tun, doch sie flog beschwingter wieder nach Hause.

Und vor solch einer Reise, die wahrlich nicht unbedeutend für sie war, musste diese Geschichte mit Dennis passieren. Sie hatte sich auf die gemeinsame Zeit mit ihm gefreut, und das erste Mal seit langem hatte sie wieder ein Gefühl von Freiheit verspürt.

Aber einen Tag vor der Abreise rief er plötzlich aus dem Büro an, er hätte sich erkältet, und könne nicht mitfliegen. Er würde sie zum Flughafen begleiten, und sich dann auskurieren. Sie hatte jedoch so ihre Zweifel: Warum konnte er sie zum Flughafen begleiten, wenn er doch so krank war?

Je mehr sie darüber nachdachte, desto weniger glaubte sie ihm.

»Tschüss mein Schatz, ich liebe dich, auch wenn du es vielleicht nicht so fühlst«, hatte er ihr zum Abschied gesagt.

Wie lächerlich und verlogen kam ihr das im Flugzeug vor. Wenn er sie liebte, wäre er doch wohl mit geflogen, so einfach war das!

Die Zeit mit ihrer Uroma war auch so sehr schön, doch Esther spürte, dass die Kraft der alten Frau nachließ:

 

»Ich gehe bald in meine eigentliche Heimat«, hatte sie Esther mit leuchtenden Augen erklärt.

Aber sie selbst fürchtete sich davor, wieder in ihre Heimat zu fliegen. Sie fürchtete sich vor ihren Gedanken, vor der Zukunft, und vor Dennis. Als sie sehr lange darüber nachgedacht hatte, erkannte sie, dass Dennis sie niemals wirklich geliebt hatte. Eigentlich war er ein schwacher, charakterloser Mensch, der einfach davonrannte, wenn etwas zu schwierig wurde. Sie sah jetzt überdeutlich, dass er niemals fähig sein würde, ein guter Ehemann zu sein. Sie hatte Besseres verdient, nicht jemanden, für den sie bügelte, kochte, das Haus putzte – und der dann schlecht gelaunt von seiner Arbeit kam, und jammerte, wie schwierig doch alles sei. Aber jetzt wusste sie: Sie war immer nur eine billige Arbeitskraft für ihn gewesen. Eine Haushaltshilfe, die nichts kostet!

 

So wütend war sie an diesem letzten Tag gewesen, dass sie in den Wald gelaufen war, und laut vor Wut schrie, ihre ganze Enttäuschung, Frustration und ihren Hass hatte sie den Bäumen entgegen gebrüllt. Die waren wenigstens still, und hörten ihr zu.

Danach fühlte sie sich für kurze Zeit ruhiger und ausgeglichener.

Sie würde endlich ein belastendes Kapitel in ihrem Leben schließen!

Ja, sie würde Dennis Meyer verlassen, und endlich ihr eigenes Leben beginnen. Zu lange hatte er sie schon daran gehindert, frei zu sein; – diese Beziehung blockierte so viel Potential in ihr.

Zu allem Übel hatte sie in der Nacht der Entscheidung wieder Albträume gehabt. Übergroße Schatten bedrängten sie, Schatten, die an ihr klebten, sie nicht losließen. Dann hörte sie ein lautes höhnisches Lachen in ihrem Kopf. Und als sie schweißgebadet aufwachte, sah sie noch immer die finsteren Figuren, die heute langsamer verblassten als sonst.

Wegen Dennis hatte sie also auch noch schlechte Träume. Doch damit würde jetzt Schluss sein, und schon der Gedanke daran hatte sie mit neuer Energie erfüllt.

Das Einzige, wovor sie sich jetzt noch fürchtete, war, es ihm zu sagen. Aber sie würde es kurz und schmerzlos machen, und endlich einmal das machen, was sie wollte, überlegte sie auf dem Rückflug.

 

Da sie ihre Reise etwas verlängert hatte, ging Dennis schon wieder zur Arbeit, als sie kam. Erst sehr spät an diesem Abend kam er nach Hause. Sie wollte gar nicht mehr wissen, was er schon wieder so lange gemacht hatte.

Kühl und sachlich hatte sie ihm erklärt, sie würde ihn verlassen. Sie hatte sich durch nichts beirren lassen.

Dass Dennis wütend reagierte und sie anschrie, bestätigte nur das, was sie schon lange gedacht hatte, jedoch nie wahrhaben wollte:

Er hatte einen cholerischen, unbeherrschten Charakter.

Diese Bestätigung seiner Unzulänglichkeit machte es ihr noch leichter, und so fügte sie triumphierend hinzu, sie werde morgen ausziehen.

Warum sie ihn verließ, habe ihn nicht zu interessieren, sie habe ihre Gründe, und er solle sich um seine eigenen Sachen kümmern.

 

In dieser Nacht hörte sie Dennis im Wohnzimmer weinen, lange und hoffnungslos. Etwas in ihr regte sich, und ihr Herz wurde seltsam berührt, doch sie biss die Zähne zusammen.

Dieses Mal würde sie festbleiben, sagte sie sich.

 

Ihre Mutter und einige ihrer Bekannte halfen ihr am darauffolgenden Tag beim Umzug.

Sie würde vorübergehend wieder bei ihrer Mutter wohnen, hatte sie überlegt, lange würde es ja nicht sein, denn das Studium war in greifbarer Nähe, und sie würde sich dann eine niedliche, kleine Studentenwohnung mieten. Der Umzug selber ging dank einem Umzugsunternehmen schnell und reibungslos über die Bühne, und war lange nicht so anstrengend, wie Esther befürchtet hatte.

Da sie noch ein paar finanzielle Angelegenheiten mit Dennis klären musste, rief sie zwei Wochen später seinen Arbeitgeber an. Etwas überrascht war sie schon, als ihr mitgeteilt wurde, Dennis hätte letzte Woche um seine dringende Versetzung nach Berlin gebeten. Es seien dort verlagsintern einige Stellen ausgeschrieben gewesen, und da Dennis ein guter und zuverlässiger Mitarbeiter war, wurde seiner Bitte entsprochen.

Da Esther dem Verlag als Verlobte von Herrn Meyer nicht gänzlich unbekannt geblieben war, erfuhr sie auch den Grund:

Dennis hatte gesagt, er wolle endlich aus seinem Schattendasein als Lokalreporter heraustreten, und seiner beruflichen Entwicklung etwas Gutes tun. Da schon seit einiger Zeit kein Verhältnis mehr mit Frau Stein bestehe, hatte er der Firma untersagt, seine Anschrift und seine Telefonnummer weiterzugeben.

Bei ihrem ehemaligem Vermieter erfuhr sie nur, Dennis sei vor einer Woche nach Berlin gezogen, die Adresse habe er nicht.

Das sah ihm wieder ähnlich. Vermutlich hatte er schon seit Monaten mit dem Gedanken gespielt, nach Berlin zu ziehen, ihr aber nichts von seinen Überlegungen mitgeteilt. Wie gut, das diese Zeit nun endlich hinter ihr lag, dachte sie.

 

Ja, so hatte sie damals gedacht.

 

 

 

11

 

 

Die Stimme von Hauptkommissar Becker war in den letzten Minuten immer lauter geworden, und er rang sichtlich um Fassung.

»Warum habe ich niemals etwas davon erfahren, dass seit 1973, vielleicht sogar schon länger, eine Gruppe von Islamisten damit beschäftigt war, einen Mord an dem prominenten Professor Dr. Stein in Deutschland zu planen?«

Mit eindeutigen Gesten machte er seinem Ärger Luft. Doch seine engsten Mitarbeiter wussten, dass der Höhepunkt seines Zornausbruchs noch keineswegs erreicht war.

»Seit 1982 liegt Interpol eine Videoaufzeichnung vor, mit einem eindeutigen Mordaufruf gegen die gesamte Familie des Professors. Eine Kopie wurde mir erst gestern, ich wiederhole, erst gestern, von einem Mitarbeiter dieser Behörde übergeben. Schon 1982 wurde es dieser Behörde vom Mossad zugespielt! Es verschwand somit fünfundzwanzig Jahre auf irgendeinem Abstellgleis von Interpol!

Ich kann einfach nicht begreifen, dass mir, dem Leiter einer Sonderkommission in solch einem brisanten Fall, der die innere Sicherheit dieses Landes bedroht, eine Information vorenthalten wird, die es uns vielleicht ermöglicht hätte, den unerwarteten Tod eines der besten Wissenschaftler dieses Landes zu verhindern. Eines jüdischen Wissenschaftlers. Obwohl es doch angeblich zur deutschen Staatsräson gehört, Juden zu schützen!«

Er wischte sich mit einem Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn. »Und denken sie ja nicht, dass wäre das erste Mal, dass uns Interpol nicht informiert hätte. Ich scheue mich hier nicht, zu sagen, dass Interpol eine Nazivergangenheit hat. Der Präsident von Interpol in den Jahren 1968-1972, Paul Dickkopf, war ein ehemaliger SS-Angehöriger, er hat nach dem Krieg mit anderen ehemaligen Offizieren das Bundeskriminalamt in Wiesbaden aufgebaut.

Wissen sie, wer während des Krieges die Vorläuferorganisation von Interpol leitete? Kein geringerer als SS-General Reinhard Heydrich. Der damalige Hauptsitz der ›Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission‹ war Berlin-Wannsee.

In demselben Haus fand 1942 die berüchtigte Wannseekonferenz statt. Wenn man nun noch weiß, dass eine der vier Arbeitssprachen von Interpol Arabisch ist, und das bedeutet eine massive Dominanz arabischer Staaten angesichts der 182 Mitgliedsstaaten von Interpol, dann ist das alles sehr bedenklich, und diese Fakten lassen gewisse Schlussfolgerungen zu!

Ich sage es offen:

Faschismus bildete zusammen mit dem Islam schon immer eine unheilige Allianz gegen alles Jüdische. Ich erinnere nur an die rege Mitarbeit eines Mohammed Al-Husseini, Obermufti von Jerusalem. Von ihm stammt das Zitat:

Was Hitler nicht gelang, werden wir vollenden‹.

Wussten sie, dass er der Großonkel von Jassir Arafat gewesen sein soll?

Ein gemeinsames Ziel, ein gemeinsamer Hass!«

 

Er blickte angespannt in die Runde seiner zehn engsten Mitarbeiter. Er wusste, dass er sich weit vorgewagt hatte. Aber er konnte seine Gedanken nicht länger für sich behalten.

Es waren gute Leute, bewährte Leute. Persönlich von ihm ausgesucht. Geprüft auf Loyalität und Verschwiegenheit. Auf Letzteres setzte er nun.

»Ich habe gestern mit dem Polizeipräsidenten ein ausführliches Gespräch über diese Situation gehabt. Er sicherte mir volle Rückendeckung zu, da dies nicht das erste Mal ist, dass das BKA und somit alle Landeskriminalämter, von Interpol nicht in vollem Umfang von konspirativen Operationen, die eindeutig krimineller Art sind, und die sich gegen bekannte Persönlichkeiten unseres Landes richten, informiert werden. Dies geht sicherlich nicht von höchster Stelle aus, wir vermuten vielmehr, die Informationen ›versickern‹ auf der mittleren Führungsebene. Der BKA-Präsident wird ebenfalls über diese Nachlässigkeit von Interpol informiert werden, und ich hoffe, dieser Konflikt wird zu einem Präzedenzfall.

Denn die Aufgabe und Funktion dieser Behörde besteht schlicht und ergreifend in der umfassenden Unterstützung der nationalen kriminalpolizeilichen Stellen. Und hier hat Interpol schon seit Jahrzehnten kläglich versagt – oder versagen wollen.«

Der letzte Halbsatz hing wie eine Drohung im Raum, wie eine Großoffensive gegen alle Halbwahrheiten, und es schien, die Atmosphäre in dem schäbigen Berliner Büro balle sich zusammen, wie die Gewitterwolken dieses schwülen Augustnachmittags.

 

Er wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn, der nun in kleinen Bächen seine Schläfen hinunter rann.

 

***

 

Die Spannung in dem stickigen Büro war knisternd und dicht, und Dor spielte nervös mit seinem Schwert. Er nahm als Einziger die Bosheit wahr, die sich jenseits der Gewitterwolken erhob.

Dieser Mann war sicherlich mutig, doch war er nicht auch leichtsinnig? War es nicht gefährlich, über Dinge zu sprechen, die der Wahrheit zu nahe kamen? Denn Wahrheit gehörte zum Bereich des Lichts, und wenn sie auf Lüge und Zwielicht traf, war Kampf unvermeidlich. Und dieser kleine, verlorene Planet im riesigen All war die Kampfzone.

Es mutete lächerlich an. Doch das, was hier geschah, war in Wirklichkeit sehr viel bedeutender als das, was die meisten glaubten.

 

Aus diesem Grund war er gesandt – um der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen. Um jene zu unterstützen, die bereit waren, die Wahrheit aufzurichten. Doch das konnte nur in menschlichen Herzen geschehen. Dor verstand nicht, warum und wie, er wusste nur, das dies so war. Wenn auch die Wahrheit oft mit Füßen getreten wurde, war sie doch mächtiger als jede Lüge, nicht, weil die Menschen so stark wären, sondern … Er wurde jäh aus seinen Überlegungen gerissen, denn ein gewaltiges Donnergrollen ließ die Glasfenster des Gebäudes vibrieren. Als sei dies ein geheimes Signal gewesen, formierten sich langsam, dann immer schneller unzählige dunkle Schatten, und bald hatte sich ein Drittel des Himmels verfinstert.

 

***

 

Auf einmal drehte sich alles in seinem Kopf. Eine Welle von Übelkeit, plötzlich und ohne jede erkennbare Ursache durchlief ihn. Er musste sich setzen, und atmete in regelmäßigen Atemzügen ein und aus. Ein und aus. Besorgtes Stimmengemurmel erhob sich:

»Herr Becker, ist alles in Ordnung mit ihnen?« –

»Es ist einfach zu stickig hier, kein Wunder, dass der Kreislauf spinnt.«; »sie arbeiten einfach zu viel, ruhen sie sich einmal richtig aus«; »vielleicht sollten sie einmal länger Urlaub nehmen.«

Mit schweißnassem Gesicht nahm er das alles zur Kenntnis und konnte nur nicken. Sabine Lange, seine Sekretärin brachte ihm ein Glas Wasser, dass er dankbar trank, während er sich noch einmal für eine letzte Ansage wappnete. Seine Stimme zitterte:

»Meine Damen und Herren, ich danke ihnen aus ganzem Herzen für ihren beispiellosen Einsatz in den letzten Wochen. Dies ist in der Tat ein ungewöhnlicher Fall, und ich möchte ihnen persönlich meine Wertschätzung für die vielen Überstunden ausdrücken, die geleistet wurden.«

»Offensichtlich«, er versuchte, zu lächeln, »brauche ich selbst etwas Ruhe. Ich danke für ihre Aufmerksamkeit, und wünsche ihnen allen ein ruhiges, erholsames Wochenende.«

 

Zügig verließen die Mitarbeiter das Büro, um noch vor dem zu erwartenden Unwetter bei ihren Familien zu sein.

Als er allein zurückblieb, noch immer von Übelkeit geplagt, musste er daran denken, das alles an diesem Fall merkwürdig war.

Die Haltung und Stärke von Dennis Meyer, der, obwohl knapp dem Tod entronnen, und weiterhin von Unbekannten bedroht, noch lächeln konnte. Die merkwürdigen ›Visionen‹, die er hatte. Das Geflecht von Halbwahrheiten und eisernem Schweigen, das ihm auf Schritt und Tritt begegnete, sobald er in diesem Fall recherchierte. Das ignorante Schweigen seiner Vorgesetzten, ja der komplette Informationsstop von Interpol, der auf seine Nachfrage angeblich von höheren Entscheidungsträgern legitimiert war.

Es war so absurd. Auf der einen Seite redeten alle von der Gefahr, die vom internationalen Terrorismus ausgehe, und ja, von offiziellen Stellen wurde zu einem entschiedenerem Kampf gegen Terrorismus in jeder Form aufgerufen.

Aber sobald man etwas Handfestes hatte, entglitt es einem wieder.

Auf einmal fühlte er sich sehr einsam.

So musste sich Don Quichotte gefühlt haben, als er allein gegen die Windmühlen kämpfte, dachte er bitter. Er war hilflos, erschöpft, und es wäre wohl das Beste, diesen Fall abzugeben.

Doch er kam nicht dazu, diesen Gedanken zu Ende zu denken, denn zu der Übelkeit gesellten sich bohrende Kopfschmerzen, die ihn endgültig davon überzeugten, nach Hause zu gehen.

 

***

 

Als sich auf der Erde ein einsamer Mann krampfhaft an seinen Stuhl klammerte, um einer Übelkeit zu entkommen, deren Ursache er nicht kannte, fing der Himmel an, zu weinen.

Dicke Tropfen, die erst langsam, dann immer schneller zur Erde fielen, bedeckten rasch den grauen Beton der tristen Metropole. Sturzbäche ergossen sich von den Dächern der Häuser. Die Kanalisation konnte die Wassermengen nicht mehr fassen, so dass ganze Straßenzüge überflutet wurden, und der abendliche Verkehr fast völlig zum Erliegen kam.

Als wenn dies nicht schon genug an Chaos wäre, peitschten nun orkanartige Windböen durch die Straßen der Metropole. Gewaltige Blitze zuckten zur Erde, dicht gefolgt von krachendem Donner, der in den engen Häuserschluchten widerhallte wie Artilleriefeuer.

 

Aber allein Dor sah, dass mit dem Regen noch etwas anderes, Unsichtbares zur Erde fiel: Eine Macht, mit dem Verstand nicht wahrnehmbar: Betäubung.

Betäubung für die Menschen dieser Stadt. Sie machte sich bemerkbar in Form von Vergesslichkeit, denkerischer Ignoranz, Trägheit; als mangelnde Ausdauer und Schläfrigkeit. Vor allen Dingen machte es sie (je nachdem, wie stark der Wille des Einzelnen war), immun gegen die Wahrheit. Wenn sie bewusst dagegen ankämpften, dauerte es eine Weile, bis die Betäubung wirkte. Jene, die sich ihr sofort ergaben, aus Desinteresse oder Genusssucht oder Angst, schläferte sie sofort ein.

Doch alles in allem bewirkte dieser Geist eine Illusion:

Ein Zerrbild der Wirklichkeit, dass es den Menschen ermöglichte, über Dinge hinweg zu sehen, die einfach zu bedrohlich waren. Eine Parallelwelt also, eine Flucht aus der Realität mit ihren Kriegen, ihrem Hass, ihrer Lüge. Alles wurde angenehm, zwar nicht besonders aufregend oder abwechslungsreich, aber angenehm.

Die Wirkung lag in dem Empfinden von subjektiver Sicherheit. Wohlgemerkt subjektiv, denn die tatsächliche Bedrohung konnte riesengroß sein, die Menschen nahmen es nicht mehr wahr, und fühlten sich sicher. Ein wenig wie ein Kuschelclub, sinnierte Dor, in dem sich alle lieb hatten, die Welt heil war, und nichts Böses eindringen konnte. Man ahnte, dass die Wahrheit möglicherweise etwas anders aussah, aber was war denn überhaupt Wahrheit? In allem steckte doch schließlich ein Körnchen Wahrheit! War dieses Gerede von Wahrheit nicht anmaßend und lächerlich?

In der Welt, aus der er kam, gab es jedoch einen Namen für diese Haltung: Verblendung.

Er wusste, wie stark Betäubung selbst für ihn war, denn jedes Mal, wenn er das verborgene Tor zur Welt der Menschen passierte, befiel ihn sofort diese lähmende Schwere, und er musste Kraft und Glauben aufwenden, um wieder in die Klarheit seines Geistes zurückzukehren.

So freute er sich jedes Mal, wenn er zurück ins Ewige Reich durfte. Dort sog er die Atmosphäre von Wahrheit und Licht ein, wie ein Verdurstender, der in der Wüste eine Quelle entdeckt. Ebenso stellte er dann fest, dass er viel weiter sehen konnte, als in der Menschenwelt, und auch besser hören.

Ja, in gewissem Sinn erneuerte sich sein gesamtes Wesen.

 

Er zuckte zusammen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Eine leuchtende Gestalt stand neben ihm in der Finsternis. Talmon, der Fürst des Nordens lächelte ihn an. »Gerade bin ich aus dem äußersten Norden gekommen. Ich habe die Anweisung, dir beizustehen. Gegen das hier.«

 

Er deutete auf die Dunkelheit in weiter Entfernung vor ihnen, die in wellenartigen Bewegungen um ein Zentrum aus rotglühendem Feuer rotierte.

 

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© 2012 Daniel Leon